Medi&Ator

Mediatoren aus Leidenschaft

Medi & Ator

Ein Mediatorenpaar berichtet über Erfahrungen mit der Mediation und der Welt. Eine Lektüre zum Schmunzeln, Erkennen und Lernen.

Die Weihnachtsmediation Episode VI

Angeblich sind alles echte Fälle und wahre Begebenheiten. In diesem Jahr stehen die beiden Profi-Mediatoren wieder vor einer neuen Herausforderung. Sie müssen sich mit der Engelschar und der Mediation auseinandersetzen. Können sie dem Engelsboten helfen? Der Leser mag entscheiden, ob und wo er die Mediation und die Mediationslandschaft darin wiederfindet. Natürlich meistern Medi & Ator auch diesen Fall. Zumindest stellt sich bei Medi die gewünschte Stimmung ein.

„Profis haben es längst bemerkt:
Medi & Ator begegnen Fragen, die jeder Mediator in einer Mediation zu bewältigen hat.“

Medi & Ator und der Engelsbote

„Ich bin eigentlich gar nicht in der Stimmung“, sagte Medi. „Was für eine Stimmung hättest du denn gerne?“, fragte Ator, als könnte man Stimmungen erwerben wie Kaugummi im Warenhaus. Er war stolz, dass er nicht die Warum-Frage gestellt hat. Was hätte Medi ihm darauf wohl auch geantwortet? Am Ende hätte sie ihn noch für ihre schlechte Stimmung verantwortlich gemacht. Das musste nicht sein. Nur die Frage nach der Stimmungswahl ermöglichte Medis positive Reaktion. Nur deshalb antwortete sie: „Na eine meditative Weihnachtsstimmung natürlich. Ist doch klar!“

„Weihnachten und Mediation, wie soll das zusammenpassen?“, kitzelte Ator. „Das Fest der Liebe …“, erinnerte ihn Medi schmunzelnd. „Und was hat Liebe mit Mediation zu tun?“, warf Ator mit einem gespielt nachdenklichen Blick ein. Er wollte nur provozieren. Er erwartete auch keine Antwort, denn er hatte nicht wirklich Lust auf die 100000. Fachdiskussion zu diesem Thema. Er wusste genau, dass sie keinen Grund hätten, die Weihnachtsmediation anzubieten, wenn nicht gerade Weihnachten Anlass für Streit und Zerwürfnis gäbe. Deshalb stellte er lapidar fest: „Wenn es so viel Liebe an Weihnachten gäbe, wären wir arbeitslos“.

Die mediative Weihnachtsstimmung sollte sich für Medi aber dennoch herstellen, wenn auch auf Umwegen.

Jemand klopfte an die Tür. „Warum benutzt der nicht die Klingel?“, fragte Ator mürrisch. Er hatte die Klingel zu ihrer Mediationspraxis ähnlich wie das Telefon mit viel technischem Know-how so eingestellt, dass fünf harmonisch aufeinander abgestimmte Klingelsignale ertönten. Für jede Phase eins. „Wir wollen nicht pedantisch sein“, antwortete Medi beschwichtigend, „Hauptsache, es kommt jemand“. Sie ging zum Flur und öffnete die Tür. Sie war überrascht, als sie dort ein mittelgroßes, blondes Wesen entdeckte. Auf den ersten Blick wusste sie nicht, mit wem sie es zu tun hatte. Ihr fiel das weiße, bodenlange Gewand auf und der goldene Reif, der über dem Kopf von einem Stab aus Plastik gehalten wurde. „Ziemlich wackelig“, dachte Medi bei sich, „Das soll wohl ein improvisierter Heiligenschein sein“. Sie kicherte in sich hinein. Ihrem messerscharfen Mediatorenverstand fiel sofort auf, dass der Schein nicht echt war. Sie überlegte sich deshalb: „Bekommen wir es jetzt etwa mit einem Möchtegernheiligen zu tun?“. Kaum war der Gedanke aufgekommen, bemerkte sie die weißen, gefederten Flügel, die über den Schultern des Jünglings herausragten. „Also kein Möchtegernheiliger, sondern ein Möchtegernengel“, erhärtete sie ihren Verdacht.

„Was kann ich für sie tun?“, fragte Medi fast scheinheilig und ohne ihre Gedanken zu vertiefen. Ihr war es wichtig, sich ihre Gedanken nicht anmerken zu lassen. Zumindest glaubte sie, dass es ihr gelang. Sie war ja schon an Einiges gewöhnt. Wenn Medi & Ator schon den Weihnachtsmann und den Osterhasen zu ihrer Klientel zählten, warum nicht auch so etwas. Medi bemerkte sofort die Erregung des verkleideten Engels. „Du bist kein Engel“, redete sie sich ein. Da war sie sich ganz sicher. Medi stellte sich vor, dass Engel Metawesen sind. Die müssten also genauso gelassen sein wie Mediatoren. Auch Mediatoren bewegen sich auf einer Metaebene. Medi war sich sicher, dass Mediatoren deshalb, wenn man so will, in einer gewissen Art und Weise auch Metawesen sind. Daran gemessen wirkte dieses Wesen ganz und gar nicht gelassen auf sie.

„Ich bin ein Engel“, hörte sie den Jüngling sagen. Medi schaute sich ihr Gegenüber jetzt noch kritischer an. Sie konnte ihr Misstrauen kaum verbergen. „Ein Hochstapler“, dachte sie bei sich. Der scheinheilige Engel schien ihr Zweifeln zu bemerken. Deshalb fügte er hinzu: „Mein Name ist Gabriel. Ich bin zertifizierter Engel. Ich brauche ihren Rat“.

Medi wusste, dass eine Bescheinigung noch keinen Engel ausmacht. Für sie sind Engel ein Teil der menschlichen Psyche und ein Korrektiv zum subjektiven Selbstverständnis. Das muss gelebt und kann nicht bescheinigt werden, wusste sie. Medi erinnerte sich an die Auseinandersetzung mit Dr. Laus im letzten Jahr. Herr Niko Laus hatte sie gelehrt, dass es weniger auf die Etikette als auf die stimmige Innenwelt ankommt. Immerhin hatten sie aus dieser tiefen Erkenntnis heraus ja auch ihr TVWM Projekt eingestellt. Sie hatten erkannt, dass die Form mit den Inhalten niemals wirklich kompatibel sein konnte. Der Gedanke an das mediative Denken ermahnte sie, unvoreingenommen zu sein. Auch fiel ihr ein, dass Gabriel nach der Angelologie, so wird die Engelskunde genannt, der Engelsbote ist. Er wird sogar als der Vermittler von Visionen angesehen. Als Weihnachtsmediatorin kannte sie natürlich auch die fachlichen Hintergründe der Engelswelt. Medi wurde neugierig. „Hat Gabriel etwa eine Botschaft?“, fragte sie sich jetzt. Auch wenn ihre Häme der Ernsthaftigkeit ihrer Frage im Wege stand, war der Gedanke doch in ihrem Kopf. Er könnte ein Schlüssel zur Lösung des noch unbekannten Problems sein. Deshalb notierte Medi ihn pflichtbewusst und rein vorsorglich auf ihrem inneren Parkplatz.

Ohne sich weiter in diesen Gedanken zu verlieren, fragte sie sich, ob sie als Beraterin überhaupt in Betracht kommen kann. Ihr fiel §3 Abs. 2 Mediationsgesetz ein. Die Vorbefassung könnte eine Mediation verhindern. Das wäre doch kontraproduktiv für eine Weihnachtsmediation. Nur weil Weihnachten ist, beschloss sie auch diese Bedenken erst einmal zurückzustellen. Mit einer aufgesetzt wirkenden Freundlichkeit und getrieben von der Erwartung einer vielleicht doch möglichen Mediation, lud sie Gabriel erst einmal ein, hereinzukommen:

„Na dann treten Sie mal ein“, bat sie ihren potenziellen Kunden.

„Das ist Gabriel“, stellte Medi den jungen Herren vor. Sie war stolz, dass sie eine Gelegenheit fand, ihr Wissen über die Engelskunde einzubringen. Sie teilte ihren gedanklichen Parkplatz mit Ator, indem sie hinzufügte: „Gabriel ist der Engelsbote. Er möchte einen Rat“. Den Engelsboten überhörte Ator, anders als Gabriel. Gabriel war sichtlich überrascht, als er hörte, dass er ein Bote sei. Das war ihm neu. Eine Abstimmung darüber erübrigte sich jedoch, als Ator enttäuscht fragte: „Keine Mediation?“ „Darüber möchte ich ja gerade mit Ihnen reden“, lenkte Gabriel ein. „Sie sind mir empfohlen worden. Ich habe da ein Problem“.

„Ich bin Mitglied im WEV, dem Wahrer-Engel-Verband. Die Seraphim hatten beschlossen, einen Weihnachtschor zu veranstalten, um die Engelsdienste besser bekannt zu machen. Alles begann mit einem Streit über den Auftritt. Sie müssen wissen, dass der Gesang der Seraphen eigentlich dazu gedacht ist, die Engelslehre zu verkünden. Mir wurde aufgetragen, mit dem Engelschor Jingle Bells zu singen. Ich wurde nicht einmal gefragt, ob ich das singen will. Mich ärgert schon, dass die Theoretiker, die sich berufen fühlen über die Liedauswahl zu entscheiden, selbst gar keine Praxis im Choralgesang haben. Jetzt müssen wir ausbaden, was die sich ausgedacht haben. Und was ist das für ein Lied, wo wir in den Strophen singen müssen: Glöckchen klingen am kupierten Pferdeschweif oder Nimm die Mädchen heute Abend. Das ist doch sexistisch und ignoriert völlig den Tierschutz. Und dann frage ich mich, was das mit der Engelslehre zu tun hat?“ Ator fragte Gabriel gespielt naiv: „Und was stört Sie daran?“. „Michael sagte einmal“, fuhr Gabriel fort, „wir seien ein schlagkräftiger Engelschor. Da passt doch etwas nicht zusammen. Unsere Lieder sollen nicht einschlagen, sie sollen etwas deutlich machen. Sie sollen die Engelslehre verkünden. Aber das scheint niemanden zu interessieren, wenn es darum geht Engelsdienste zu verkaufen“.

Medi glänzte wieder mit ihrem Wissen über die Engelschar: „Michael ist der Sieghafte, der die Seelen in Empfang nimmt“, warf sie ein. „Sieghaft, genau“, sagte Gabriel und führte aus: „Er ist ein Engelsfänger. Deshalb gibt es Stress, seit ich meine Kritik angebracht habe. Die stellt in Frage. Das will man nicht hören. Der WEV hat ein Ziel vor Augen. Ich frage mich nur welches? Und als ich dann noch vorgeschlagen hatte, Pferdehalfter statt Engelskostüme zu tragen, begannen die mich zu mobben. Das war gar nicht als Provokation gemeint. Es wäre nur konsequent“. „Wer sind die?“, fragte Ator. „Der Michael, der Raphael, der Uriel und die anderen Seraphe auch“, antwortete Gabriel. „Sogar der Lucifer hat auf mir rumgehackt. Und plötzlich waren sich alle einig und wollten durchsetzen, dass ich nicht mehr an den Proben teilnehme. Ich sei gar kein richtiger Engel wurde mir vorgeworfen, obwohl der WEV mir selbst das Engelszertifikat verliehen hatte. So macht das Engelsein doch keinen Spaß“.

„Fällt Dir etwas auf?“, fragte Medi an Ator gerichtet. Medi genoss die Möglichkeiten einer Co-Mediation. Die Mediatoren können im Zwiegespräch Gedanken einbringen, ohne in eine direkte Kommunikation mit den Medianden zu treten, aber so, dass sich ihnen wichtige Gedanken dennoch erschließen. „Nein“, antwortete Ator etwas irritiert. „Es sind nur männliche Engel“, hob Medi hervor. Ator fand diesen Hinweis völlig unpassend. Er wusste, dass es ein Thema für seine weibliche Co-Mediatorin war. Er meinte aber, dass es hier, an dieser Stelle, nichts zu suchen habe. Deshalb antwortete er schroff: „Wie bei den Mediatoren. Das Mediationsgesetz kennt auch nur den männlichen Mediator. Schau mal in § 1 Abs. 2 Mediationsgesetz. Und trotzdem bist Du eine Mediatorin!“.

„Ich bin so wütend!“, fuhr Gabriel fort. Einen kurzen Moment dachte Medi, Gabriel reagierte auf ihre ungeschickte Intervention. Sie hatte Ators versteckte Botschaft durchaus verstanden. Sie muss noch lernen, ihre eigenen Themen aus der Mediation herauszuhalten. Glücklicherweise ließ sich der Engelsbote aber nicht von seiner Geschichte ablenken. Gabriel fuhr deshalb unbeirrt fort: „Mein Vorschlag war, Süßer die Glocken nie klingen zu singen. Ich fand das zwar auch nicht wirklich passend. Aber wenn es denn schon ein Glockenlied sein muss …“. Gabriel holte tief Luft: „Nicht einmal auf diesen Kompromiss hat sich der Michael eingelassen. Bei Süßer die Glocken nie klingen heißt es wenigstens: S’ist als ob Engelein singen wieder von Frieden und Freud. Wir sind doch Engel und es geht doch um Frieden, nicht wahr? Damit verträgt sich doch kein Mobbing“. Nach einer kurzen Denkpause fügte Gabriel kleinlaut  hinzu: „Oder etwa doch?“. Wieder gab es eine Denkpause. Medi & Ator hatten Schweigen gelernt, sodass Gabriel seine Ausführungen nach einer Weile unbeeinflusst ergänzen konnte: „Darüber muss man doch reden können. Wie will man die Engelsbotschaft verbreiten, wenn man ein Mobber ist?“. Wieder gab es eine Pause bevor Gabriel eingestand: „Ich bin so traurig!“

Die Frage, wer der Mobber ist, verkniff sich Ator. Stattdessen vergewisserte er sich: „Hab’ ich Sie richtig verstanden, Sie sind wütend und traurig zugleich?“. Er erntete einen etwas verstörten Blick, sowohl von Medi wie von Gabriel. Der Einfachheit halber wertete er die non-verbalen Rückmeldungen als Zustimmung. Der empathischen Medi fiel auf, dass Ator zwar Emotionen verbalisiert hat. Er unterdrückte aber die Paraphrase. Deshalb ergänzte sie: „Sie beschreiben einen Streit, bei dem es Ihnen darauf ankommt, die richtige Engelsbotschaft zu verkünden, die Sie mit der Engelslehre verknüpfen. Ist das so korrekt?“, „Ja“, bestätigte Gabriel kurz und Medi fuhr fort: „Sie meinen, sowohl die Liedauswahl, als auch das Verhalten bei der Liedauswahl vermitteln eine nicht-engelsgerechte Botschaft. Die würden Sie gerne richtig stellen, damit die dahinter stehende Vision erkennbar wird. Ist das so korrekt?“, „Ja“, bestätigte Gabriel. Medi führte die Paraphrase noch weiter aus: „Mir fällt auf, dass es Ihnen wichtig ist, sich darüber auszutauschen. Sie möchten hinter der Botschaft stehen können, die Sie zu verkünden haben“. „Ja genau“, sagte Gabriel und Medi ergänzte schließlich noch die Frage: „Sind Sie ein Sucher?“. Gabriel reagierte ebenso zögerlich wie er überrascht war: „Ja, vielleicht, … so habe ich das noch nie gesehen“.

Medi & Ator sehen sich vielsagend an. „Ich glaube wir holen Ihnen erst mal einen Tee und ein paar Engelsplätzchen“, sagte Medi ohne eine Antwort abzuwarten. „Kann ich auch einen Kaffee haben?“, hörte sie noch Gabriels schüchternen Ruf, als sie den Raum verließen.

Medi brauchte eine Auszeit, um sich mit ihrem Co-Mediator zu besprechen. In der Küche angekommen, platzte es aus ihr heraus: „Das ist die Büchse der Pandora“, sagte sie. Ator hatte ein viel wichtigeres Problem: „Was sind denn Engelsplätzchen“, wollte er wissen, „und woher hast Du die?“. Medi war stolz, dass sie Ator wieder einmal belehren konnte: „Die gehören in jeden Weihnachtsgebäckkorb. Hier kannst Du eins probieren“. Sie reichte Ator ein buntes Plätzchen aus Pinienkernen, Mehl, Zucker und anderen Zutaten, die zu einer Engelsfigur mit Flügeln und bunten Borten geformt war. Ator staunte nicht schlecht über so viel Hintergrundwissen. „Hmmm, schmeckt nicht schlecht und passt irgendwie“, sagte er anerkennend, als er eines der Plätzchen probierte. „Besser als ein Schokoladenweihnachtsmann“, erinnerte er an die Frage, die sie in ihrer ersten Mediation zu bewältigen hatten. Ja, Medi & Ator waren sehr erfahren. Deshalb wussten sie genau, wie mit den schwierigen Situationen umzugehen ist, die unerwartet in der Mediation aufkommen.

Dieser Fall stellte sie allerdings vor ganz neue Herausforderungen. So ein Fall kam in ihrer Ausbildung nicht vor. Medi fragte deshalb gerade heraus: „Was machen wir nur als nächstes?“. „Keine Ahnung“, sagte Ator. Er wusste, dass ein Mediator andere Fragen stellen sollte. Trotzdem konnte er Medis Verzweiflung verstehen. Medi hatte noch mehr fachliche Fragen, weshalb sie die Antwort gar nicht abwartete: „Ist das nicht ein Einzelgespräch?“, fragte sie, „Da sind doch wohl noch andere an dem Konflikt beteiligt. Dann dürfen wir Einzelgespräche doch nur führen, wenn alle zustimmen. Das steht so im § 2 Abs. 3 Mediationsgesetz“. Ator antwortete darauf nur: „§3 Abs. 1 Mediationsgesetz“, ohne auf die Problematik näher einzugehen. Wichtiger war ihm die Frage nach dem Konflikt. „Ich sehe nicht nur einen, sondern gleich mehrere Konflikte“, korrigierte er Medi. „Ich sehe einen systemischen, eventuell einen strukturellen und wohl mehrere Beziehungskonflikte, die sich daraus ergeben“.

„Wow, was Du alles siehst“, spottete Medi. „Die Frage ist doch, wie wir die Medianden an den Tisch bekommen“. „Genau“, sagt Ator, „und dafür müssen wir wissen, wer mit wem welchen Konflikt hat!“. „Auf jeden Fall Michael, Raphael und Uriel“, warf Medi spontan ein. Dann überlegte sie: „Meinst Du wir sollten Lucifer auch einladen? Der schafft doch nur Probleme“. „Probleme hin oder her, das sind ohnehin nur einige der Täter, äh Beteiligten“, korrigierte Ator seinen Hinweis. „Da ist wohl der ganze Chor involviert“. „Ja, da ist einiges im Argen, aber muss es denn gleich der ganze Engelschor sein? Die passen doch gar nicht in unser Büro. Wie viele sind das eigentlich?“, fragte Medi nachdenklich und fügte ohne eine Pause hinzu: „Meinst Du wirklich, die sind alle gegen den armen Gabriel?“. „Keine Ahnung“, antwortete Ator auf die letzte Frage bezogen. Wenn die Fragen wie Salven aus einem Maschinengewehr gefeuert werden, gibt es stets eine Wahlmöglichkeit. Ator führte deshalb auf die von ihm gewählte, letzte Frage aus: „Das müssen wir herausfinden. Ich kann mir vorstellen, dass einige Chormitglieder durchaus Gabriels Bedenken teilen, wenn sie wüssten, was da so abläuft. Aber das wissen w ir nicht. Wir kennen ja bisher nur die eine Seite. Und woher weißt Du, dass Gabriel arm ist?“. „Glaubst Du die kommen, wenn wir sie einladen?“, fragte Medi. Ators Hinweis auf ihr Mitgefühl ignorierte sie. Ator überlegte die Frage, wer denn alles einzuladen sei: „Ja, ich denke schon, dass der gesamte Chor an einen Tisch gehört, wenn das Problem gelöst werden soll“. „Du meinst die Seraphim? Und was ist mit den Cherubim, den Thronoi, den Kyriotetes, den Dynameis, den Exusiai, den …“. „Ja, ja, ist ja schon gut“, unterbrach Ator. Medi fuhr unbeirrt fort: Das sind auch Engel, aber keine Sänger. Wenn alle an einen Tisch kommen, stellt sich vielleicht heraus, dass Gabriel gar nicht so falsch liegt, mit dem was er sagt“. „Möglich ist alles“, antwortete Ator. „So viel Platz haben wir aber ganz sicher nicht in unserem Büro. Es geht auch nicht darum, wer Recht hat oder nicht, sondern wie eine Auseinandersetzung darüber möglich wird. Die hat es ja wohl bisher nicht wirklich gegeben. Zumindest sind noch Fragen offen. Ich kann mir schon vorstellen, dass der Erzengel Michael als Chorleiter keine einsamen Entscheidungen trifft, sondern eine Mehrheit hinter sich hat“. „Mehrheit heißt nicht Konsens“, warf Medi besserwisserisch ein und bekräftigte: „Erst recht nicht, wenn sich die Mehrheit auf einzelne Engelsgruppen beschränkt, wo nur einige die vermeintliche Mehrheitsentscheidung herbeiführen, wo andere sich erst gar nicht beteiligen und wieder andere sich ausgesperrt fühlen, weil sie unterworfen oder erst gar nicht angehört werden“. „Gabriel kann sich doch wählen lassen“, warf Ator ein. „Damit es dann eine andere Mehrheit gibt?“, fragte Medi, „Führt das in einen Konsens? Wie lässt sich ein Problem lösen, wenn es zum Teil der Lösung wird?“. „Zumindest nicht mediativ“, stimmte ihr Ator widerwillig zu. Wo Medi Recht hatte, hatte sie Recht.

Sowohl Medi wie auch Ator spürten, dass diese Gedanken an den konkreten Fragen vorbeiführten. Sie sind noch in der Vorphase und müssen überlegen, wie sie die anderen Beteiligten an einen Tisch bekommen. Sich in Spekulationen über Gründe und Lösungen zu verlieren, die auch noch über die Konflikthypothese hinausgehen, führt ganz sicher an der zu klärenden Frage vorbei. Da waren sich Medi & Ator einig. Sie meinten auch, dass es nicht gut sein kann, wenn sie Gabriel noch länger warten lassen.

Ohne einen wirklichen Plan zu haben, gingen sie also in das Mediationszimmer zurück. Gabriel saß dort völlig in sich versunken. Er wirkte nachdenklich. Die Engelsplätzchen und der warme Kaffeegeruch holten ihn in die Realität zurück. „Oh Sie haben Engelsgebäck. Michael wollte Engelsplätzchen verteilen, wenn wir den Auftritt haben. Als der Seelenfänger der Engel sagte er immer: Mit Speck fängt man Mäuse. Aber die Menschen sind keine Mäuse und so fängt man auch keine Seelen, wenn es da überhaupt etwas zu fangen gibt“.

„Autsch“, dachte Medi. Ihr fiel das Wort Neutralität ein. Sie musste irgendwie reagieren und den Verdacht ausräumen, dass auch sie Gabriel einfangen wollte: „Die Engelsplätzchen waren ganz zufällig unter dem Weihnachtsgebäck“, log sie. „Wenn sie unliebsame Assoziationen hervorrufen, dann nehme ich sie einfach weg. Wir haben auch Schokoladenweihnachtsmänner von unserer letzten Mediation“. Medi verschwieg, wie lange die her ist und hoffte insgeheim, dass es bei den Engelsplätzchen bleiben konnte. Ganz ohne Plätzchen hatte sie noch keine Mediation gewagt. Tatsächlich kam es auf die Plätzchen auch nicht an. Gabriel hatte ganz andere Probleme. Deshalb sagte er: „Ist schon ok. Machen Sie sich keine Umstände“.

Umstände, war das Stichwort für Ator. „Keine Umstände“, sinnierte er, „bei so einem Fall?“. Er ergriff das Wort: „Apropos Umstände. Der Fall ist schon für die Mediation geeignet“, lautete sein Resümee. „Wir vermuten mehrere Konflikte. Die Suche nach einer konsensbasierten Lösung erscheint angemessen. Unser Eindruck ist, dass es um einen fehlenden, generellen Grundkonsens geht“. Damit sprach er den systemischen Konflikt an. „Die Seraphim scheinen unterschiedliche Vorstellungen zu haben und wenig Bereitschaft, geschweige denn Wege, diese Frage offen anzusprechen“. Diese Bemerkung bezog sich auf den strukturellen Konflikt.

„Ja genau“, sagte Gabriel, dem die Hypothesen verschlossen blieben. „Die berufen sich auf das Gesetz. Da steht aber nichts von Jingle Bells. Das passt doch auch gar nicht, zum Wesen der Engelsbotschaft, weil …“. „Das haben wir verstanden“, fuhr Ator dazwischen. „Die Frage ist, wer darüber zu entscheiden hat, was passt und was nicht und wie diese Entscheidung zu einem Konsens geführt werden kann“. „Ja das kann man so sehen“, sagte Gabriel, der sich als Engelsbote natürlich berufen fühlte, eine engelhafte, konsensuale Entscheidung einzufordern.

„Die Frage ist nur“, führte Ator weiter aus, „wie bekommen wir alle Engel an einen Tisch, damit sich diese Frage klären lässt?“. „Alle an einen Tisch? Das können Sie vergessen“, sagte Gabriel. „Die berufen sich auf eine Legitimation, von der ich gar nicht weiß, woraus die sich ableiten soll, wenn sie die gesamte Engelschar betrifft. Ich weiß nur, dass man es nicht mag, wenn sie in Frage gestellt wird. Ich habe gehört, dass Petrus einen Round-Table plant, an dem zumindest alle teilnehmen können, die sich berufen fühlen. Dem Petrus könnte es gelingen“. „Sie meinen, dass man dort über engelhafte Weihnachtslieder reden wird?“, warf Ator ein. Die Provokation erzielte ihre Wirkung. „Wohl eher nicht“, überlegte Gabriel, was seine Stimmung nicht gerade verbesserte. „Die konzentrieren sich mehr auf die Frage, wer sich Engel nennen darf, nicht was die Engelsbotschaft ausmacht und wozu man sie verbreiten sollte“, antwortete Gabriel. „Da wird das Pferd von hinten aufgezäumt. Aber wie wäre es, wenn Sie Michael mal einen richtigen Brief schreiben?“, schlug er vor. „Den können Sie ja in cc an Petrus senden“.

„Sie meinen, um ihm klar zu machen, wo der Hammer hängt, um ihm zu zeigen, dass er im Unrecht ist oder um ihn anzuschwärzen?“, provozierte Ator. „Nein natürlich nicht, das würde doch auch die Engelsbotschaft ignorieren“, antwortete Gabriel pflichtbewusst. „Die Frage lautet also, wie sich Engel in eine Verhandlung bringen lassen, die sie selbst, warum auch immer, als nicht notwendig ansehen und die eine Auseinandersetzung mit dem Nutzen der anstehenden Entscheidungen und der Entscheidungsfindung ermöglicht“, warf Medi ein. „Wer möchte sich schon gerne in Frage stellen und seinen Sieg riskieren“, unterstrich der Engelsbote seine Skepsis.

„Wir sollten also überlegen, wie man die relevanten Fragen aufwerfen kann, damit sich die Notwendigkeit erschließt, darüber einen Konsens herbeizuführen“, schlussfolgerte Ator, der Stratege. „Sie könnten einen Aufsatz veröffentlichen“, schlug Medi in vorauseilendem Gehorsam vor. Kaum gesagt, fragte sie sich: „Bin ich jetzt in Phase vier? Darf ich als Mediatorin denn überhaupt Vorschläge unterbreiten?“. Noch bevor sie sich in solchen Fragen verlieren konnte, antwortete Gabriel: „Das ist wenig erfolgversprechend. Das Thema ist zu komplex für einen Aufsatz und Außenseiter haben kaum eine Chance auf Veröffentlichung. Die Wissenschaft beruft sich auf ein Exzellenzprinzip auf das sich die Theoretiker verstehen. Das geht oft an der Praxis vorbei. Und die Fachzeitschriften veröffentlichen nur das, wovon sie denken, dass es auch gelesen werden will. Die Leser wiederum meinen, dass das, was geschrieben wird, den Kurs vorgibt. So wird sichergestellt, dass die eigentlichen Themen gar nicht aufkommen. Ein elaborierter Text, der lang ist und nur von wenigen Kennern verstanden wird, hilft dabei sicher auch nicht weiter. Und wo sollte ich den Aufsatz auch veröffentlichen, so dass er nicht nur die Seraphim, sondern auch die Cherubim und alle anderen Engel erreicht? Man darf einen Aufsatz nur einmal veröffentlichen. Die haben aber alle ihre eigenen Quellen. Hinzu kommt, dass die Frage ja auch nicht nur die Engel betrifft, sondern auch alle, die sich damit auseinandersetzen müssen. Also auch die Himmelsgerichte und die Engelspolitiker. Die informieren sich wieder aus anderen Quellen, wo es leicht fällt, falsche Mythen nachzubeten“. Ohne sich auf die Bewertungen Gabriels einzulassen, schlug Medi vor: „Es müsste eine Plattform geben, die mit der Komplexität des Themas umgehen kann und die Fragen aus allen Perspektiven zu beleuchten vermag. Auch sollte sie helfen, die Selbstreferenzialität zu überwinden“. „Genau“, bestärkte Gabriel die Idee. „Solange Michael nur mit seiner Gefolgschaft diskutiert, fehlt ein echter interdisziplinärer Austausch. Eine solche Plattform wäre ein Geschenk des Himmels“, sagte er mit einem etwas verzweifelt wirkenden Gesichtsausdruck. „Die gibt es bereits“, sagte Ator. „Die Frage ist nur“, führt er weiter aus, „warum beispielsweise ein Seraphe eine solche Quelle nutzen sollte. Wenn er meint, die Engelsbotschaft zu kennen, sucht er nach Anhängern, Kontrolle und Anregungen, nicht nach Kritikern, die sie hinterfragen. Damit sind wir wieder bei dem Ursprungsproblem. Alles dreht sich im Kreis. Wie kann man das Beste daraus machen?“. „Die Antwort findet sich in der Engelslehre“, antwortete Gabriel verschmitzt. „Ich dachte an einen Online-Round-Table“, sagte Ator, „den könnten wir nämlich anbieten“.

Medi, Ator und Gabriel machten sich noch viele Gedanken, wie es möglich ist, an einem Grundkonsens zu arbeiten, der deutlich macht, worum es bei der Engelsbotschaft gehen soll. Sie überlegten, wie sich ein Konsens herbeiführen lässt, der den eigentlichen Nutzen der Engelsbotschaft herausstellt, ihre Bedeutung erkennt, von allen verstanden wird und der alle einbezieht.

Plötzlich interessierte sich Medi für Gabriels Motive. Sie ignorierte die Überlegung, dass sie ja noch gar nicht in einer offiziellen Mediation, geschweige denn in Phase drei sind. Trotzdem fragte sie Gabriel: „Warum ist es Ihnen wichtig, dass die Engel ihre Botschaft teilen und gemeinsam vertreten?“. Die Frage sollte helfen, den Nutzen des noch immer zu planenden Vorgehens herauszufinden. Gabriel kannte die Antwort offenbar bereits. Er sagte deshalb ohne zu zögern: „Weil die Engelslehre zu den richtigen Fragen führt. Die Fragen erschließen sich aber nur, wenn die Lehre verstanden wird. Nur dann kann die Botschaft gelebt und umgesetzt werden“. „Das ist Ihre Meinung“, hob Medi hervor. Sie fand ihre vorausgegangene Frage nicht beantwortet. Deshalb insistierte sie: „Und was haben Sie ganz persönlich davon?“. „Davon sind wir doch alle betroffen, jeder Einzelne, also auch Sie und ich. Sie sollten sich auch dafür interessieren. Es gibt genug Probleme auf der Welt, aber keine validen Lösungen, die sich auf die Komplexität der Problemstellungen einlassen und über Behauptungen und kaum nachvollziehbaren Versprechungen hinausgehen. Wir argumentieren uns in den Streit hinein. Es gelingt uns aber nicht, uns über den Nutzen zu verständigen, der aus dem Streit herausführt. Wenn ich helfe, die richtigen Fragen zu stellen, habe ich das Gefühl, einen sinnvollen Beitrag zu leisten, die Probleme zu lösen“, antwortete Gabriel. „Engel vermitteln die Vorstellung von Frieden, Güte, Weisheit und Gnade“, erläuterte er sein Motiv und fügte an: „Nicht von Weihnachtsbäumen und Schnickschnack, den man kaufen kann. Ich denke, die so verstandene Engelsbotschaft ist wichtig. Gerade heutzutage, wo Stärke und Macht wichtiger zu sein scheinen, als Weisheit und Frieden. Die Erkenntnis über den Weg zur Erkenntnis möchte ich gerne mit anderen teilen. Wir sollten verstanden haben, dass eine unreflektierte Macht keinen Konsens bildet und dass Weisheit der Garant für den Nutzen aller ist. Darin sehe ich den Kern der Engelslehre“. Medi konnte eigene Erfahrungen beisteuern: „Ich sehe viele Parallelen auch in anderen Bereichen, wo sich die Dienste verselbständigen und sich über die Lehre hinwegsetzen“. Sie erinnerte sich wieder an das Gespräch mit Dr. Laus im letzten Jahr und fuhr mit einem, für Gabriel nicht erkennbaren, Selbstbekenntnis fort: „Selbst die, die sich den Konsens auf die Fahne schreiben, vergessen ihn manchmal. Es hat den Anschein, als wären auch ihnen Bescheinigungen wichtiger, als der damit zum Ausdruck kommende Sinngehalt“.

Medi hielt einen Moment inne, bevor sie fortfuhr: „Wenn ich auf Sie als der Engelsbote zurückkommen darf, als der Bote der Visionen erkennen soll, scheint es mir, dass Sie versuchen, als ein Vorbild in Erscheinung zu treten, das den Weg in den Frieden weist. Ist das so korrekt?“. „Eigentlich sollten alle Engel Engelsboten sein, so wie alle Bürger Botschafter ihres Landes sind, ob man das will oder nicht. Nein, Ich will kein Vorbild sein“, antwortete Gabriel. „Ich meine aber, dass die Engelslehre verstanden werden muss, damit sie wirkungsvoll implementiert werden kann und ich habe Zweifel, ob das der Fall ist“. „Glauben Sie, dass die anderen Engel die Lehre nicht verstehen?“, fragte Medi. „Das wage ich nicht zu behaupten“, antwortete Gabriel. „Diese Beurteilung steht mir auch nicht zu. Ich frage mich nur, wie sie erkennbar werden soll. Mit Jingle Bells ganz sicher nicht und mit der Art, wie darüber entschieden wird und wie die Engelsdienste angeboten werden sicher auch nicht“. „Dann geht es Ihnen um Klarheit und Authentizität“, sagte Medi. „Ja genau“, antwortete Gabriel und ergänzte: „Wer die Engelslehre vorschreiben will, muss sie auf sich selbst anwenden und sein Verhalten daran messen lassen. Den Maßstab bildet die Informationssorgfalt und das einander Verstehen wollen. Es geht um Zuhören, um Offenheit und Ehrlichkeit, denn das gehört auch zum Wesen der Engelslehre“.

Medi ließ sich auf Gabriels Gedanken ein: „Die Engelschar ist doch sehr vielfältig, richtig“. „Ja“, antwortete Gabriel, „das soll auch so sein“. Medi fuhr fort: „Unter den Engeln gibt es unterschiedliche Interessen. Da gibt es einen Lucifer, den Seelenfänger und viele andere, die Ihrer Meinung nach ein wenig abgestimmtes Bild davon haben, was Engelsein bedeutet, richtig?“. „Ja“ antwortete Gabriel. „Sie meinen, wenn Sie ein Engelskostüm tragen, muss auch ein Engel drin sein, richtig?“. „Ja, damit kein falscher Eindruck entsteht“, antwortete Gabriel. „Sie meinen aber auch, dass dieses Kostüm nicht zwingend einen wahren Engel ausmacht“, fuhr Medi fort. „Es gibt wahre Engel, die das Kostüm tragen und andere, die nur das Kostüm tragen, weil sie ein Zertifikat dafür haben. Und dann gibt es noch solche, die vorschreiben wollen, wer das Kostüm tragen darf und wer nicht“, antwortete Gabriel. Medi entwickelte den Gedanken weiter: „Sie meinen aber, dass sich ein wahrer Engel unabhängig davon immer nur durch sein Verhalten identifiziert. Ein Verhalten, das auf eine Einstellung verweist, die sich mit sich selbst auseinandersetzt und die sich mit dem Wunsch zu verstehen, durch Offenheit, Kongruenz und Ehrlichkeit auszeichnet?“. „Ja“ antwortete Gabriel. „Das Kostüm verdeutlicht demnach nur, was für andere sichtbar sein soll, richtig?“, führt Medi den Gedanken konsequent fort. „Ja“ antwortete Gabriel. „Es kann auch etwas vortäuschen, wenn es nicht zum Verhalten passt“, sagte Medi. „Dann ist es wertlos“, schlussfolgerte Gabriel. „Ist es das?“, fragte Medi. „Es drückt zumindest etwas anderes aus“, antwortete Gabriel. „Wer entscheidet darüber, was es ausdrückt“, fragte Medi. „Letztlich die, die mit den Engeln zu tun haben werden“, antwortete Gabriel. „Dann gibt es also einen Weg jenseits des Scheins, wie sich die Engelslehre vermittelt?“, stellte Medi fragend fest. „Ja“, antwortete Gabriel, „das sind die Engelserfahrungen. Die Erfahrung bei der Begegnung mit Engeln. Sie weisen letztlich aus, wer ein wahrer Engel ist“. Während Medi diese Gedanken mit Gabriel entwickelte, fiel ihr selbst auf, dass das Wort Schein in dem Wort Bescheinigung vorkommt, was wiederum die Übersetzung für ein Zertifikat ist. Sie überließ es aber Gabriel selbst, diesen Zusammenhang herzustellen.

Ator war recht beeindruckt von dem Dialog. Er hielt sich zurück, weil er den Gedankengang nicht unterbrechen wollte. Ator fragte sich zwar auch, ob ein solches Gespräch, das eigentlich zur Phase drei gehört, schon im Vorfeld stattfinden sollte und ob es nicht eher zu einem Coaching passt. Er erweiterte seine Konflikthypothesen schließlich noch um einen inneren Konflikt bei Gabriel. Ator wusste, dass dafür eine Mediation gar nicht zuständig ist, zumindest keine i.S.d. Mediationsgesetzes. Andererseits sah er aber auch die Notwendigkeit, sich ein Bild von der Konfliktlage zu machen. Erst Recht, wenn unklar ist, ob und wie sich die anderen Engel überhaupt auf ein solches Gespräch einlassen und was das optimale Vorgehen ist, um den Konflikt zu lösen. So gesehen passte das Gespräch für ihn durchaus in die vorbereitende Phase. „Wahrscheinlich müsste auch mit Michael ein sondierendes Vorgespräch stattfinden“, überlegte er im Stillen. Es brauchte aber noch ein Konzept, wie er dazu veranlasst werden kann. Ators Gedanken waren noch ganz und gar nicht ausgegoren. Deshalb beobachtete er gespannt, wie Medi den Dialog fortsetzte.

„Wie machen Sie als Gabriel eigentlich deutlich, dass Sie die Engelslehre leben?“, fragte Medi jetzt. Sie verdeutlichte ihre Frage, indem sie hinzufügte: „Müssen Sie dafür ein Engelskostüm tragen und im Engelschor singen?“ „Solange man nicht dazu gezwungen wird, ein Kostüm zu tragen oder dem Engelschor anzugehören, gibt es sicher auch andere Wege“, antwortete Gabriel. „Nur dann?“, fragte Medi.

Gabriel hatte verstanden. Das Sein braucht weder einen Schein noch eine Bescheinigung. Es braucht Raum zum Leben und muss gelebt werden, damit es in Erscheinung treten kann. „Bleibt zu hoffen, dass wenigstens Petrus diesen Raum zur Verfügung stellt“, dachte Gabriel bei sich. Beim WEV war er sich nicht sicher. Was er verstanden hatte war, dass sich Frieden, Güte und Weisheit weder in einem Kostüm noch in einem Lied oder Argumenten wiederfinden lassen. Sie vermitteln bestenfalls eine Ahnung davon. Nur die innere Einstellung lässt das Unsichtbare sichtbar werden. Das wurde ihm jetzt klar. Ist sie stark genug, hat sie die Kraft, sich über den Schein hinwegzusetzen.

Gabriel verstand die Freiheit zu leben, wofür er einsteht. Er verstand auch, dass die Weisheit leise ist und zum Leidwesen ihrer Verfechter nicht immer auf den ersten Blick erkennbar wird. Er hat erkannt, dass die Weisheit in den Hintergrund tritt, wenn andere Wünsche im Vordergrund stehen und wenn Lösungen durchgesetzt werden sollen. Dieses Vorgehen verliert den Konsens aus dem Blick. Es stellt die Weisheit eher in Frage, als sie zu vermitteln. In einem bedächtigen Ton sagte Gabriel schließlich: „Die Engelsbotschaft braucht keine Parolen. Die stehen der Erkenntnis eher im Wege. Spätestens dann, wenn sie hinterfragt werden. Ich habe verstanden, dass die Auseinandersetzung darüber nur im engelsgerechten Verhalten zu finden ist und nicht in den Argumenten über die Scheinhaftigkeit“.

Stille und Besinnlichkeit machten sich breit. Langsam stand der Engelsbote auf. Bedächtig legte er das Flügelhalfter ab und zog den improvisierten Heiligenschein aus. Das weiße Gewand behielt er an. „Wie rücksichtsvoll“, dachte Medi. Die Weihnachtsmediatoren konnten nur noch beobachten, wie Gabriel langsam von seinem Stuhl abhob und zu schweben begann. Er stieg höher und höher, bis er schließlich ganz verschwunden war.

„Der Engel ist gegangen“, sagte Ator. „Der Engel ist gekommen“, erwiderte Medi. „Fakt ist: er ist nicht mehr zu sehen“, insistierte Ator. „Er sieht sich jetzt selbst“, korrigierte Medi. „Und er hat gefunden, wonach er gesucht hat. Wenn er die Engelslehre wirklich in sich trägt, wird sie auch für andere sichtbar werden“, erläuterte Medi das beeindruckende Phänomen und fügte hinzu: „Man muss nur genau hinschauen. Ich beispielsweise habe erkannt, dass ich mich geirrt habe“, gestand sie sich ein: „Ich musste auch erst genau hinschauen, um zu erkennen, dass Gabriel kein Scheinengel ist. Er ist der echte Engelsbote“. Ator hatte nur eine vage Idee, was sie damit meinte.

Zurück blieben wertlose Insignien und etwas verblüffte Mediatoren. „Was ist jetzt mit unserem Honorar?“ fragte Ator. „Ich denke, wir haben viel mehr bekommen“, antwortete Medi. Für sie hat sich hergestellt, was sie vermisst hat. Ein Gefühl von mediativer Weihnacht. „War das jetzt eine erfolgreiche Mediation?“, fragte Ator noch. „Kommt es darauf an?“, fragte Medi zurück. „Sie wird daraus entstehen“, ergänzte sie. Ator wusste nicht, warum ihm jetzt das Mediationsgesetz in den Sinn kam.

Medi sah sehr zufrieden aus. Deshalb sagte sie nur noch: „Ich wünsche Dir eine besinnliche und frohe Weihnacht!“. „Ich Dir auch“, antwortete Ator. Er wollte sich auf seine Weise bei Medi bedanken, als er hinzufügte: „Wir sind auf dem Weg“. Ob Medi seinen Dank verstanden hat? Jedenfalls sagte sie: „Es ist ein langer Weg der Erkenntnis. Aber ich gehe ihn gerne mit Dir“.

Arthur Trossen