Die Exit-Strategie als Einbahnstraße der Mediation

Exit – Ausstieg klingt gut. Doch Ausstieg woraus? Ausstieg wohin? Mit der Mediation raus aus dem „russischen Angriffskrieg“ rein in die Verteidigung der freiheitlichen Grundordnung? Die politische Sprachregelung versäumt keine Gelegenheit, das Wort „Angriffskrieg“ als Mantra unter das Volk zu bringen. Auf der Gegenseite finden wir nichts Entsprechendes, was dem die Waage hielte, nur Weiches, Freundliches, Unbestimmtes wie die „westliche Werteordnung“  oder die „Freiheit“. Haben wir hier eine gemeinsame klare Vorstellung, was mit diesen Begriffen gemeint ist? Wissen wir überhaupt, wohin wir wirklich wollen, falls dieser Krieg im Guten beendet wird? Schon hier fällt es schwer, sich einen Punkt vorzustellen, von dem aus die Mediation sich beiden Seiten annähern könnte, geschweige denn, ihnen eine Veranlassung zu geben, den Krieg zu beenden. Einen Angriffskrieg gibt es nur zu verachten. Aber auch Verteidigung mit Waffen ist Krieg. Doch  hört man das Wort Krieg auf der anderen Seite zur Zeit eher selten.

Wir führen keinen Krieg, wir liefern nur Waffen. Der orthodoxe Pazifismus sagt daher: auch Verteidigung mit Waffen ist Krieg und darum nicht zu akzeptieren. Der gemäßigte Pazifismus möchte abwägen, und sagt, es käme darauf an! Aber worauf? Wird man nicht schon mit der ersten kriegerischen Antwort möglicherweise hineingezogen in eine Kettenreaktion? Ist Krieg dosierbar?

Der Exit-Strategie fehlt eine entscheidende Vision. Sie ist gefangen in einer Schwarz-Weiß-Sicht, die sie mit den Kriegsparteien teilt. Über moralische Begründungen und Ziele einer „militärischen Operation“ zu streiten, führt zwangsläufig in die Parteilichkeit. Vor allem aber führt sie am tieferen Nachfragen vorbei: Was ist überhaupt Krieg? Kein Mensch will ihn, und doch findet er ständig und überall statt. Krieg ist offenbar eine unausrottbare Realität des Menschseins.

Für den Philosophen Karl Jaspers manifestiert sich der Krieg in einem entscheidenden Kriterium. Jaspers sagt: „Krieg ist das Gegenteil von Freiheit“, und er schreibt über den „Kampf gegen den Krieg“: Ich zitiere:

„Die nach bisheriger historischer Erfahrung gewaltigste, die Freiheit immer einschränkende und schließlich vernichtende Realität ist der Krieg. Der Freiheitswille sucht mit unendlicher Geduld den Krieg unmöglich zu machen. Aber es bleibt unsere Situation, dass dieses Ziel nicht in sicherer Aussicht steht… Es ist unser menschliches Verhängnis, dass in uns allen jene Gewaltsamkeit liegt, die zu Folge hat, dass wir nie ohne Kriegsdrohung leben… Diese Drohung wird nie völlig aufhören.

Für Jaspers beginnt der Kampf gegen den Krieg mit dem unbedingten Freiheitswillen des einzelnen Menschen von „der kleinsten Zelle der Gemeinschaft aufsteigend zu den höheren“, und zwar „im alltäglichen Verhalten, in dem ein jeder durch Mitverantwortung zur Freiheit kommen soll“. Nach Jaspers ist  Krieg nicht möglich ohne ein allgemeines Verhalten zwischen Menschen, das ihn verbreitet“. Eine erfolgreiche Strategie dagegen kann daher nicht in Anti-Kriegsdemonstrationen, „also bloßen Einzelaktionen, bestehen, sondern muss im Kleinsten beginnen und im einfachen Miteinander-Reden vorangebracht werden. Die erste Bekämpfung des Krieges beginnt mit der Entwicklung eines ganz persönlichen Alltagsethos. .

Finden wir hier nicht einen entscheidenden Hinweis, wo und wie wir beginnen müssen? Wo und wie Ausstieg und vor allem auch eine Mediation beginnen müsste? Wie reden wir heute miteinander über den Krieg  – wenn überhaupt? Es sind immer die anderen, die Krieg machen, – wir wollen ihn nicht!  Es ist Sache der Politik, nicht unsere! Wenn wir so denken und reden, sehen wir nur das, was uns Menschen voneinander trennt, und nicht das, was uns miteinander verbindet. Basis der Mediation ist jedoch, klar zu sehen, was uns verbindet. Anders bekommt die Mediation keinen Fuß auf den Boden.

Zwei Dinge sind damit gesagt: 1) Krieg kommt nicht von ungefähr, kommt nicht von außen, von feindlichen Aggressoren, – er kommt auch von uns. 2) Die Bekämpfung des Kriegs beginnt mit der Erweckung unseres eigenen besonderen Freiheitswillens, – und mit der Frage, ob wir mit dem für uns gefundenen Freiheitswillen bereit sind, uns gegen den Krieg einzusetzen. Es genügt nicht, nur allgemein für die Freiheit zu sein und von anderen zu fordern, dass sie uns diese Freiheit verschaffen. Um unsere persönliche Freiheit müssen wir uns ganz allein kümmern, ebenso um die tiefere Klarheit, was diese Freiheit für uns bedeutet. Es scheint freilich, dass für viele der Freiheitsbegriff fremdbesetzt ist, also von andern definiert wird, wenn nicht sogar eine Floskel, mit der wir Politik und Institutionen Druck machen, dass diese uns etwas liefern, womit wir uns gut fühlen. Das ist aber mit Freiheit hier nicht gemeint – und auch nicht das, wozu Freiheit notwendig ist:

 „Tun, was man will, wie man will, wo man will“, heißt nicht Freiheit“, sagt die Jaspers-Schülerin und Schweizer Philosophin Jeanne Herrsch. „Das ist nicht Freiheit sondern Willkür.. Wahre Freiheit ist für sie eine Geisteshaltung, die nur von Menschen – also nicht von anderen Lebewesen – erworben werden kann. Darum ist es vor allem und geradezu allein „die Freiheit, die das Menschsein zu etwas Einzigartigem macht“.

Mit noch einer Besonderheit sind wir in dieser Situation allerdings konfrontiert: Das ist die Kriegsbegeisterung. Sie steht im diametralen Gegensatz zur Ansicht von Jaspers, wonach Krieg die höchste Form der Unfreiheit ist. Sie sagt nämlich: Krieg ist der Weg zur Freiheit, wenn nicht sogar die höchste Freiheit selbst. Wie geht das zusammen? Es ist die Vorstellung, dass nicht nur der Verteidigungskrieg Befreiung verspricht, sondern auch der Angriffskrieg selbst als Akt der Freiheit erlebt wird. Man muss hierzu nicht nur den Tönen der Propaganda lauschen, auch bei den Kriegsteilnehmern selbst gab es bisweilen einen regelrechten Freiheitsrausch festzustellen. Man denke etwa an die die Berichte vom Ausbruch des ersten Weltkriegs. Aber es gab und gibt genügend andere Beispiele auch heute. Man kann sich hier „klassisch“ etwa auch an Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ erinnern, das den Krieg als Stählung der Männlichkeit, des Mutes und der Moral pries, um nicht zu sagen verherrlichte.

Wir haben hier offensichtlich ein großes Dilemma, wie wir auch gerade beim Ukrainekrieg jetzt beobachten können: Dem Wort Angriffskrieg finden wir selten das Wort „Verteidigungskrieg“ gegenübergestellt. Wir vermeiden hier das Wort Krieg – und reden lieber von Verteidigung, Waffenlieferung und nötiger Hilfe für das Nachbarland. Doch irgendwo geistert in uns der Begriff vom „gerechten“ Krieg, mit dem wir uns gegen den „ungerechten“ Angriffskrieg verteidigen. So entsteht das Begriffspaar von „gerechten“ und „ungerechten“, verbrecherischen Krieg. Aber gibt es den „gerechten“ Krieg überhaupt? Und ist einem Verteidiger alles erlaubt? „Ich selber verstehe immer weniger, was ein Krieg eigentlich ist, je länger ich mich damit befasse“, sagt die Schweizer Philosophin und Historikerin Michelle Wüthrich, die am Kollegium St. Michael in Fribourg unterrichtet. Ein Kriegsgeschehen sei immer überaus komplex und von vielfältigen Faktoren, Ereignissen und Entscheidungen abhängig, sagt sie. Philosophisch und ethisch lasse sich die Frage nach einem gerechten Krieg allenfalls in Bezug auf den Beginn eines Kriegs klären. Einen Krieg anzufangen, sei in der Regel ungerecht. Sich gegen einen Angreifer zu verteidigen, im Grundsatz gerecht. Aber dann werde es schwierig. Je länger ein Krieg dauert, umso mehr verwischen sich allerdings  die Grenzen. Krieg ist dann einfach Krieg, und sog. „Kriegsverbrechen“ finden wir dann auf beiden Seiten.

Krieg sei immer schlimm, stellt die Philosophin klar. Trotzdem gelte es, bei einem Kriegsgeschehen sich  nicht nur auf die Tragik zu fokussieren, sondern auch darüber nachzudenken, ob eine militärische Intervention höchstens Schlimmeres verhindern helfe. Oder was zu tun sei, um einen Krieg so herunterzukühlen, dass doch wenigstens ein Waffenstillstand möglich werde.

Damit sind wir nun vielleicht an einem entscheidenden Punkt unseres Themas angekommen: Der Krieg und die Möglichkeiten einer Exit-Strategie durch die Mediation, das heißt, die Möglichkeiten der Mediation, einen deeskalierenden oder befreienden Einfluss auf das Geschehen zu nehmen. Allerdings sehen wir hier, dass sich die Exit-Strategie nicht auf den Krieg als solchen bezieht, sondern allenfalls auf das Aushandeln eines Waffenstillstands. Das macht Sinn, da sich hier die Interessen der Kriegsparteien möglicherweise decken. In diesem Eskalationsstadium gibt es keine eindeutige moralische Unterscheidung mehr, die die Mediation im Dilemma der Parteilichkeit gefangen halten würde. Es gäbe auch nicht das Problem des Zugangs zu Verhandlungen, sollte überhaupt das Thema eines Waffenstillstands von beiden Seiten gewünscht sein. Hat die Mediation jedoch einmal den Zutritt zu den Kriegsparteien gefunden, wäre eine inhaltliche Mediation zumindest theoretisch denkbar. Das wäre jedoch ein weiter Weg und würde ganz andere Voraussetzungen verlangen.

Solange die nicht vorliegen, ist eine echte Friedensmediation nach meiner Auffassung praktisch ausgeschlossen und wäre eine reine Illusion. Wir dürfen uns zur Komplexität des Kriegsgeschehens nichts vormachen. Das heißt, auch die Mediation findet keine einfachen Konfliktverhältnisse vor, wie wir sie aus unserem Alltag kennen, auf die wir unsere Methodik wie gehabt anwenden können. Solange sich die Parteien im offenen Kriegszustand befinden, versagt jede einfache Logik. Es herrscht vielmehr der Zustand einer sich aneinander selbst verstärkenden Irrationalität.

Um zu verdeutlichen, was es zu einer echten Friedensmediation bräuchte, die auf das Kriegsgeschehen unmittelbaren Einfluss in der Weise hätte, den Krieg zu beenden, möchte ich am Schluss noch einmal versuchen, auf die besondere Natur des Krieges einzugehen, auf die sich die Natur der Mediation einzustellen hat, sollte sie überhaupt die geringste Chance haben, in das unmittelbare Geschehen einzugreifen.

Wir sehen, dass Krieg, zumindest subjektiv, völlig verschiedene Gesichter haben kann, dass in  jedem Krieg unüberschaubare kontroverse Gefühle mitschwingen, deren Logik sich einem nie vollständig erschließt. Die zitierte Schweizer Philosophin  Michelle Wüthrich hat gesagt, je mehr sie sich mit dem Krieg beschäftigt, umso weniger versteht sie, was ein Krieg überhaupt ist. Das sollte zu denken geben. So viel aber lässt sich sagen, dass Krieg ein höchst widersprüchliches Phänomen ist, so widersprüchlich  wie die Menschennatur selbst. Wir werden mit Kriegen leben müssen und sie nie vollkommen abschaffen können.

Mediation wird in diesem Kontext nicht mit kalkulierbaren Konflikten zu tun haben, sondern sich gewissermaßen mit Naturgewalten auseinandersetzen müssen. Parteilichkeit kann aus vielerlei Gründen entstehen und den Mediator disqualifizieren. Durch strikte Neutralität des Mediators kann sich jede Seite unverstanden fühlen und eine Mediation von vorn herein ablehnen. Was könnte daher, müsste man da fragen, eine verbindende Mitte zwischen den Kriegsparteien herstellen? Betrachtet man aktuell die Ukraine und Russland, so wollen beide keinen Frieden, und die Freiheit sehen sie derzeit allein im Sieg. Zu groß sind die Verletzungen einerseits und die Furcht vor einem globalen Gesichts- oder Machtverlust andererseits.

Kehren wir einmal an dieser Stelle zu Karl Jaspers zurück. Die Freiheit, von der er spricht, ist eine andere als die Freiheit, die man durch einen militärischen Sieg anstrebt. Sie ist eine Freiheit der Menschlichkeit, eine Freiheit jenseits der blutigen Vernichtungskämpfe, eine Freiheit durch Überwindung von Gewalt und Unterdrückung, auch der Überwindung eigener Schwächen und Unzulänglichkeiten, eine Freiheit des Verstehens und der Verständigung. Hört man sich die propagandistischen Parolen der Kriegsparteien an, so findet man dort über die blinden Vernichtungsfantasien hinaus, die man den Gegnern wünscht, erstaunlicherweise auch hehre Ziele gesellschaftlicher Visionen, wie einen Kampf um übergreifende, weltumspannende, moralische menschliche Werte. Natürlich kann man dies alles als Lügen der Propaganda abtun. Aber warum sind sie dann fester Bestandteil der Propaganda, wenn die Kriegsherren sich nicht davon eine Unterstützung aus dem Volk versprächen? Sie wissen also genau, was das Volk will und womit man es gewinnen kann. Warum also nicht die Parolen beim Wort nehmen und sich so zunächst einmal den Zutritt in die Diskussion verschaffen? Dass beide Seiten etwas sehr unterschiedliches mit ihren Begriffen verbinden, dürfte da noch zweitrangig sein, immerhin aber doch eine Basis für Gespräche bilden. Mir fällt dazu eine Geschichte ein, die der chilenische Freigeist und Evolutions-Biologe Huberto Maturana von einer Einladung beim Diktator Pinochet berichtete. Seine mit eingeladenen Freunde witterten eine Falle. Und als Pinochet das Glas erhob und Maturana aufforderte, Gleiches zu tun, prostete der ihm zu mit den Worten zu: „Trinken wir auf das Wohl und die Freiheit des chilenischen Volks!“ Seine Freunde erstarrten vor Angst, weil sie hierin eine Ironie oder Provokation des Diktators erblickten. Doch nichts geschah. Vielmehr wies er eine Horde von Speichelleckern, die ihm ergeben huldigten, verächtlich ab, er wolle sie hier nicht sehen. Maturana dagegen drückte er zum Abschied die Hand mit Hochachtung. Das zeigt, dass mit der diktatorischen Unterdrückung elementarer menschlicher Freiheiten, diese durchaus nicht aus der Welt sind, sondern sogar ansprechbar bleiben, wenn sie mit einem gewissen Respekt und dem Bewusstsein einer starken persönlichen Haltung vorgetragen werden

Für die Mediation bedeutet das, dass allein die tiefe persönliche Freiheits- und Friedensüberzeugung, eine tragfähige Basis für eine erfolgreiche Mediation bildet, so wie wir sie bei Karl Jaspers gefunden haben.

Leider also verspricht die Exit-Strategie keine rasche Perspektive. Wollen wir dagegen etwas schnell erreichen und die notwendige Entwicklung überspringen, landen wir unweigerlich in der Einbahnstraße einer moralischen Parteilichkeit, einer Parteilichkeit – offen oder verdeckt – gegen Putin und für Selenskyj, oder was auch immer. Es sei denn, die Mediation beschränkt sich, wie bereits gesagt, auf die Vermittlung eines Waffenstillstands.

Wir müssen wissen, es geht jetzt nicht um die Erzielung einer direkten Wirkung. Es geht darum, dass wir die Botschaft des unbedingten Freiheitswillens in die Welt bringen, wir miteinander reden und beginnen, in den kleinsten Zellen der Gemeinschaft ein Alltagsethos aufzubauen, woraus die Mitverantwortung eines jeden Einzelnen für den Frieden entsteht. Das müssen wir auch für die Mediation so sehen. Wenn wir die Mediation nur nach der momentanen Effektivität beurteilen, wird sie nur ein Gebrauchsartikel bleiben, wird sie sich an einem vergänglichen Nutzen erschöpfen und aufbrauchen, wird sie stehenbleiben oder sich gar zurückentwickeln, und keiner wird sie noch brauchen.

Das heißt, wir müssen jetzt anfangen in dieser Situation der großen Herausforderung durch den Krieg, Mediation ganz neu zu denken.

Perspektive für eine Einstiegs-Strategie

Mediation machtlos und herrschaftsfrei

Wir können aus der Welt nicht heraus, – wo wollen wir hin? Die menschliche Welt ist voll, sie ist überfüllt. es gibt keinen freien Platz mehr. Wohin sollten wir gehen, in eine gedachte, „bessere“ Welt? Es hilft nichts, bloß rauszugehen, immer wieder werden wir uns in umkämpftem Territorium begegnen. Was können wir als Mediatoren ehrlicherweise versprechen? Die gute Absicht? Die Realität? Wir dürfen nicht vergessen, dass in der Ukraine mit den steigenden Opfern auch die Erwartungen auf Kompensation steigen. Die Hoffnung, lebend oder unbeschadet herauszukommen, dürfte nicht reichen, um weitere Schritte darüber hinaus zu wagen. Der Preis zum Nachgeben wird sich mit jedem geleisteten Einsatz erhöhen – für beide Seiten. So fehlt der Exit-Strategie eine entscheidende Vision für einen Eingriff von außen, um die Kriegsparteien zu überzeugen. Tatsache ist, der Krieg zerstört nicht nur, er weckt auch Hoffnungen. Keiner, der sich im Kriegswahn befindet, will zurück in das Gedränge der Welt. Und doch bleibt bei einer Rückkehr keine andere Wahl. Die Situation ist wenig ermutigend.

Wir müssen Impulse schaffen. Denn wir können die Welt nicht ändern.

Im Wort „Mediation“ steckt das Wort „medium“ = Mitte. Mediation ist in der Mitte und kommt aus der Mitte. Anders als der Pazifismus und akademische Ansätze wie etwa die Friedensforschung muss sie sich nicht einen Platz erobern. Sie ist schon da, sie ist Mitte. Der Pazifismus und wissenschaftliche Ansätze hingegen, die von außen kommen, müssen überzeugen, sonst nimmt man sie nicht wahr. Der – radikale – Pazifismus etwa leugnet gar die Herrschaft von Krieg und Gewalt und möchte sie überhaupt ignorieren. Wissenschaftliche, akademische Ansätze wie etwa die der Friedensforschung sprechen von einer höheren Ebene herab und müssen sich um Glaubhaftigkeit bemühen. Diese wird ihnen aber kaum gewährt, weil man ihnen den Realitätsbezug abspricht. So gibt es zwischen den Kriegsparteien und pazifistischen Denkansätzen kaum Berührungspunkte. Sie laufen nebeneinander her in isolierten Welten und finden kaum direkten Kontakt zueinander Sie bleiben im Prinzip unter sich, um für sich recht zu behalten. Während nun aktuell Kriegsrhetorik, Gewalt einerseits, wissenschaftliche Gegenaktivitäten und die  mediale Präsenz von Friedensthematiken andererseits zunehmen, hat – wie Umfragen ergeben, scheinbar paradox – das Interesse der Bevölkerung an pazifistischen Ideen mit der Dauer und Brutalisierung des Kriegs in der Ukraine kontinuierlich abgenommen. So landet man wieder beim Machtthema, das letztlich das Kriegsdenken legitimiert und stärkt. Auf der anderen Seite bleibt es bei moralischen Appellen, und sie bewirken nichts.

Wir können also nicht im Denken und in Theorien verharren, auch nicht in reinen Konzepten. Selbst mit dem Konzept der Mediation allein wären wir noch nicht weiter. Alles Wissen, Können, Denken muss in den gesamten Zusammenhang integriert werden, damit es Früchte tragen kann. Es muss Teil des Ganzen werden, eins werden mit der ganzen Natur der Dinge, die ihr Gegenstand sind. Reden wir vom Krieg, mit der sich die Mediation beschäftigt, ist das eine andere Sache als eine Ehekrise. Hier werden wir gerufen, dort werden wir gemieden. Die Ehekrise ist überschaubar, der Krieg nicht. Hier versagt der Rahmen beherrschbarer Rationalität. Krieg ist irrational: Aber nicht nur Krieg hat eine Geschichte. Krieg hat Ziele und Erklärungen, die zum Teil sogar einer Logik folgen. Und Krieg hat nicht zuletzt Menschen, die ihn wollen. Aber das Ganze treibt in eine uferlose Fortsetzung. Und doch sind kriegerische Formen der Auseinandersetzung ebenfalls Natur. Wir finden Machtauseinandersetzungen überall. Auch Natur kennt Gewalt und Chaos. Es gibt den Begriff „Naturgewalt“. Wie unterscheidet sich Naturgewalt von der kriegerischen Gewalt der Menschen? Gibt es etwa eine natürliche, „gute“ Gewalt – und eine unnatürliche, „schlechte“ Gewalt?

In der Natur, hat es den Anschein, läuft alles auf einen Ausgleich, eine Balance hinaus. Das würden Kriegsherren in ihrer Propaganda vielleicht ebenfalls behaupten. Aber die Naturgewalt ist eine Gewalt ohne Urheber, ohne persönlichen Nutznießer. Dem Chaos und Zerstörung fehlt eine machtorientierte Zielgerichtetheit. Es ist eine Gewalt ohne Absicht eine Gewalt ohne Autor. Bei der menschlichen Kriegsgewalt ist das nicht der Fall. Sie provoziert vielmehr die Spannungen mit dem Ziel einer sich selbst verstärkenden, aber letztlich selbstzerstörerischen Dynamik, die keiner mehr im Griff hat. Das Problem des Krieges ist also nicht nur die Zerstörung, sondern dass alle natürlichen Maßstäbe dabei verloren gehen. Hier müsste die Mediation als erstes ansetzen. Was wären diese Maßstäbe, zu denen sie zurückführen müsste? Es wären nicht Gleichheit, Gerechtigkeit, Herrschafts- und Gebietsansprüche oder was auch immer, womit Kriege in der Regel begründet werden. Denn all diese Themen fördern ja gerade die Widersprüche und die Uneinigkeit, woran sich alles entzündet. Es wären die Grundlagen, die für alle gelten und von allen geteilt werden können. Sozusagen ein Rekurs auf die Urprinzipien, des Lebens, die Erhaltung des Lebens, wie es für alle gilt und wie es alle wollen:„Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben“. Albert Schweitzer hat dies in dieser wunderbaren Einfachheit so formuliert, Es führt jedes Konkurrenz- und Streitverhalten auf seinen Urgrund zurück. An diesem ursprünglichen Gefühl mag man sich jenseits aller politischen Ideologien orientieren, unnd es mag als Schlüssel für die Mediation in kriegerischen Konflikten dienen, woraus alles weitere entwickelt werden kann, ohne Partei für eine Seite zu ergreifen. Darin können sich alle Menschen verbinden. Es enthält zwar auch eine Vorstellung von Gewalt bzw. Widerstand, spiegelt aber zugleich die Resonanz zum eigenen Leben. Das Gleiche sagt schon der kategorische Imperativ von Kant, allerdings  nicht in einer im Krieg für jedermann nachvollziehbaren Form[1].

Was folgt hieraus? Wir müssen da beginnen, wo alle stehen, und von hier aus neu zu denken versuchen. Wir müssen von unten zu beginnen mit Dingen, die jeder versteht und jeder akzeptiert. Wenn sich alle ein Leben – nicht gegen die Natur sondern –  im Einklang mit der Natur wünschen, darf es kein Ja-Aber geben. Denn damit wird der Impuls wieder gebrochen, der Einsatz für die Natur wird relativiert und geht verloren. Natur „versteckt“ sich. Man ist gewohnt, dass sie da ist, aber man findet sie nur zufällig in unverstellter Form, denn sie „zeigt“ sich nicht ausdrücklich, sie ist einfach nur da. Das macht sie in der modernen, künstlichen Welt, wo sich alles besonders hervortut, ja extra zur Schau stellen muss, um wahrgenommen zu werden, praktisch unsichtbar und wie zu etwas Nicht-Vorhandenem. In dem Moment, wo man ausruft, echte Natur gefunden zu haben, rennen alle hin und zertreten sie. Mediation ist der Natur verwandt. Sie empfängt den Impuls der Natur und gibt ihn weiter. Sie zeigt sich nicht in einem großen Auftritt, sondern hält sich zurück. Sie muss sich nicht positionieren. Das Denken der Mediation beginnt allein über die Wirkung. Die Wirkung kann man nicht betrügen, man erfährt sie unmittelbar. In der Wirkung sieht man, wo und wie man den anderen erreicht.. Mit der Entfaltung der Wirkung beginnt die Mediation. Sie ist bereits latent vorhanden und muss nur zum Leben erweckt werden. Und sie ist auch schon da, bevor einer an das Beenden eines Kampfs oder an einen Friedensschluss denkt. Mediation ist das, was im Lot ist und stimmt. So findet  man einen wirksamen Einstieg auf einfachster Ebene. Man verspricht nichts, man dirigiert nichts, man lässt die Natur wirken, Das lässt sich über alle inhaltlichen und ideologischen Grenzen hinweg vermitteln.

Mediation: machtlos und herrschaftsfrei, – mit diesen Nicht-Eigenschaften zeigt die Mediation keinerlei Affinität zum Kriegsgeschehen. Sie ist unverdächtig, in die Kriegshandlungen einzugreifen und Einfluss zu nehmen. Macht und Herrschaft und der Drang danach sind die Hauptfaktoren, die Kriege antreiben und am Leben erhalten. Alles, was den Eindruck erweckt, sich einzumischen, sei es um zu konkurrieren, sei es, um auf einen Ausstieg hinzuwirken, dürfte kontraproduktiv für eine Veränderung der Situation sein. Hierzu gehören im Prinzip auch alle moralisch/ethischen, sowie klassischen pazifistischen Ansätze. Natur und natürliche Ordnung sind schön und gut, doch welche Brücke könnte man für sie bauen? Hier muss jedoch ebenfalls der Predigerstatus unbedingt vermieden werden.

Pazifismus im klassischen – akademischen, moralischen  – Sinn scheint heute keinen überzeugenden Ausstieg zu bieten, da die Anhänger von Pazifismus und Krieg ja kaum Berührungspunkte miteinander haben. Dennoch ist der Gedanke des Pazifismus damit keineswegs vom Tisch. Der Begriff des Pazifismus ist nach wie vor in der Welt, nur der Glaube daran ist gesunken. Seine Hoffnungen bestehen jedoch fort: Der Traum von einer Welt in Frieden, einer Welt ohne Zerstörung, ohne Hass und Gewalt. Dies deckt sich weitgehend mit den Idealen der Mediation, doch die Mediation macht einen Bogen um den Pazifismus, als sei dies  nicht ihre Sache. Möglicherweise ist dies eine Folge aus dem Vorrang des Handelns, dem sich die Mediation verpflichtet fühlt. Ein Konzept des Handels für den Gedanken des Pazifismus scheint nicht in Sicht. Wohl kann man sich eine Mediation vorstellen, wenn die Parteien kriegsmüde sind, vielleicht auch, um einen Waffenstillstand auszuhandeln. Aber in einem eskalierten Krieg zu vermitteln, dafür findet man in der Mediation kein Rezept. Was macht es dem Pazifismus heute schwer, eine tätige Rolle im Konfliktgeschehen zu spielen? Es liegt wohl an seiner idealistischen Ausrichtung. Möglichweise auch daran, dass seine Wurzeln in einer Epoche liegen, da „Das Wünschen noch geholfen hat“. Das hört sich nach glücklichen Zeiten an. Ist es aber nicht unbedingt. Es heißt nämlich auch, dass man dem Pazifismus kein aktives Tun, sondern nur eine magische Wunscherfüllung zutraute. Da sind wir heute weiter, indem wir davon überzeugt sind, dass wir aktiv und rational durch eigenes Handeln in Konflikte  eingreifen können. Auch die Mediation ist ein Kind dieser Überzeugung. Pazifismus und Mediation sollten daher versuchen, sich einander anzunähern. So fragt man sich aus dem schöngeistigen Ansatz des Pazifismus nach einer friedfertigen Alternativen zu kriegerischen Handlungsweisen. Sie könnten Vorbild für die Mediation in der Vermittlung bei kriegerischen Auseinandersetzungen werden. Ansätze hierfür ließen sich im Vergleich von pazifistischen und physikalischen Leitprinzipien finden[2]. Das mag hier zunächst überraschen: Pazifismus und Physik? Der pazifistische Glaube an das Gute im Menschen besagt im Grunde nichts anderes, als einen Weg hin zu einem friedlichen, offenen Miteinander zu finden. In der Physik haben sich die Leitprinzipien der Einfachheit und der Schönheit herausgebildet, die versuchen, die Gesetze der Natur in dieser Weise zu verstehen[3]. Da die Physik nicht nur statische Zustände sondern auch Wirkweisen beschreibt, wären hieraus ohne weiteres Parallelen für eine Anwendung in der Mediation bei kriegerischen Auseinandersetzungen abzuleiten. Sie wären frei von moralischem Druck und könnten von jeder Kriegspartei als Gesetze der einenden Vernunft ohne Gesichtsverlust akzeptiert werden. Die Methodik der Mediation bliebe davon unberührt. Die Leitprinzipien von Einfachheit und Schönheit stammen aus einer humanistischen oder „pragmatistischen“ Wissenschaftsphilosophie (Olaf Müller), wonach der Mensch den Blick auf die Physik mitbestimmt und nicht eine Automatik über die Wirklichkeit entscheidet. Sie entsprechen dem Geist der Naturprinzipien, verzichten aber auf die Untersuchung objektiver letzter Einzelheiten. Das schafft genügend Spielräume und Flexibilität für mediative Verhandlungen, ohne den Emotionen übermäßigen Raum zu gewähren. Die Prinzipien Einfachheit und Schönheit führen zudem zur Konzentration auf bestimmte Schwerpunkte, die das Verfahren lenkbar machen. Einfachheit und Schönheit sind als Werte von jedermann intuitiv nachvollziehbar. Sie dienen als übergeordnete Orientierung, in der alle Kriegsthematiken aufgehoben sind, so dass hieraus konkrete Lösungen entwickelt werden können.

Eine mögliche Einstiegs-/Ausstiegsalternative wäre somit: „Pazifismus“-Mediation auf Basis vorhandener universaler und humanistischer Prinzipien.

Werner Schieferstein

Fußnoten

[1] Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. “
[2]Siehe Olaf Müller, (Reclam „Was bedeutet das alles?“ 3. Aufl. 2023) Pazifismus – Eine Verteidigung S. 85 ff
[3] Olaf Müller die dortigen Abschnitte „optimistischer Vergleich zwischen Pazifismus und Physik“ S. 79 ff