Medi&Ator

Mediatoren aus Leidenschaft

Medi & Ator

Ein Mediatorenpaar berichtet über Erfahrungen mit der Mediation. Eine Lektüre zum Schmunzeln, Erkennen und Lernen.

Episode XII

In diesem Jahr stehen die beiden Weihnachtsmediatoren wieder vor einer neuen Herausforderung. Die vielen Kriegsnachrichten belasten sie. Sie werfen Sinnfragen auf. Und dann haben sie wieder einen neuen Fall, der sie an ihre Grenzen bringt. Die Leserinnen und Leser mögen entscheiden, ob und wo sie sich und die Mediation oder auch die Wirklichkeit in der fantastischen Geschichte wiederfinden. Ähnlichkeiten zu lebenden Personen sind natürlich, wie immer, rein zufällig, auch wenn die Geschichten auf einem realen Hintergrund beruhen. Die Fußnotenverweise helfen bei der Suche nach der wahren Mediation. Natürlich meistern Medi & Ator auch diesen Fall auf ihre eigene, wundersame Art und Weise. Wir befinden uns in der Weihnachtszeit des Jahres 2023.

„Profis haben es längst bemerkt:
Medi & Ator begegnen Fragen, die jeder Mediator in einer Mediation zu bewältigen hat.“

Medi & Ator und die Teufelsaustreibung

„Hast Du heute schon die Nachrichten gelesen?“, fragte Medi an einem Nachmittag der späten Vorweihnachtszeit. „Natürlich“, antwortete Ator. „ICH lese keine Nachrichten mehr“, hob Medi hervor. Ator wunderte sich, warum sich Medi dann dafür interessierte, ob er die Nachrichten gelesen hat. Offenbar wollte sie auch nicht über die Nachrichten informiert werden. Denn ohne Ators Antwort abzuwarten erläuterte sie: „Das macht nur schlechte Gefühle“. Ator verstand, dass es Medi wohl eher darum ging, ihm einen Vorwurf zu machen. So etwa wie: „Hast Du heute ETWA SCHON WIEDER die Nachrichten gelesen?“.

Medi litt definitiv unter den vielen Kriegsnachrichten. Das wusste Ator. Sie kann mit schlechten Gefühlen nicht gut umgehen. Zumindest nicht, wenn es die eigenen sind. Sie weiß von ihren Medianden, wohin schlechte Gefühle führen. Vielleicht wollte sie mit ihrer Anspielung auf die Nachrichten auch nur Ators emotionale Welt in Frage stellen. Möglicherweise wollte sie sich aber auch nur vor sich selbst rechtfertigen. Sie betonte, dass aus schlechten Gefühlen nur schlechte Gedanken herauskommen könnten. „Und umgekehrt!“, korrigierte Ator sie sofort mit seinem anmaßenden Charme. Das war dann so etwas wie ein „Ja, aber“. Eine spontane philosophische Inspiration ließ ihn noch sagen: “Ohne schlechte Gedanken gibt es keine guten“. Nach einer kurzen, bedächtigen Pause fügte er hinzu: „Man muss das ganze Bild sehen“.

Medi griff die Belehrung zwar auf, aber sie beharrte darauf, dass sie sich nicht die Laune verderben lassen müsse. „Die lügen doch sowieso alle“, fiel ihr noch ein. Um ihr Killerargument zu verstärken, behauptete sie noch, dass ohnehin jeder die Fakten verdrehe, wie es ihm gerade passt. Das klang fast wie eine Verschwörungstheorie. Und das aus dem Munde einer Mediatorin!

Das konnte Ator so auf keinen Fall stehen lassen. Gedanken sind doch nur Gedanken. „Du hast doch gelernt, wie mit Informationen umzugehen ist“, ermahnte er seine Kollegin, ohne auf ihren Trotz näher einzugehen. Dann ermutigte er sie in einem fast väterlich anmutenden Tonfall: „Du kannst das!“. Das war die Bestärkung. Die Ermahnung folgte unmittelbar: „Wende doch einfach an, was Du gelernt hast. Du blendest doch auch nicht die schlechten Gedanken der Medianden aus“. Er konnte sich die Belehrung einfach nicht verkneifen.

„Das ist doch etwas ganz anderes“, echauffierte sich Medi. „Das ist immerhin mein JOB! Der Krieg ist NICHT mein Job. Ich muss es mir nicht antun, wenn Nachrichten die Zahl der Todesopfer wie Trophäen herausstellen und dass in mir eine klammheimliche Freude aufkommt, wenn es die feindlichen sind. Das ist doch pervers“. „Aha“, sagte Ator. „Es geht um Deine VERANTWORTUNG“. Auf die Perversion ging er nicht ein, obwohl er Medi in dem Punkt durchaus Recht gab. Statt zu sagen, dass sich auch ein Mediator seinen Perversionen stellen müsse, machte er eine bedächtige Pause, bevor er mit der ebenso provokanten wie rhetorischen Frage fortfuhr: „Du hast keine Verantwortung für das, was auf der Welt geschieht?!?“. Ator war ein Meister der Mäeutik.[1]„Ich habe Verantwortung für MICH“, erwiderte Medi betont selbstbewusst ohne die Hinterhältigkeit in Ators Frage zu durchschauen. „Aha“, sagte Ator und blickte Medi bedeutungsvoll an. Medi verstand den Blick. „Ja, ok“, ergänzte sie deshalb. „Auch für meine Familie.“ „Aha“, sagte Ator nach einer bedächtigen Pause und mit einem noch bedeutungsvolleren Blick. „Mein Gott ja, und für ….“. Medi musste den geständigen Gedanken nicht zu Ende führen. Das Telefon kam ihr zur Hilfe.

Der Fall mit dem Teufel

Medi & Ator hatten eine Siegeshymne als Klingelzeichen einprogrammiert. Die ersten Takte aus „We are the Champions“ von Queen ertönten. Sie sollten andeuten, dass der Anruf ganz und gar nichts mit Champions zu tun haben wird. Gut, dass der Anrufer das Klingelzeichen nicht hört. Es war ohnehin für Mediatoren völlig unpassend gewählt und bedeutete im konkreten Fall auch nichts Verheißungsvolles. Medi und Ator spürten das. Sie werden den Klingelton bei Gelegenheit ändern, entschied jeder für sich in dem Moment. Vielleicht wählen sie den „Twilight Zone Ringtone“. Den gibt es in vielen Varianten.

„Machen Sie Mediation?“, fragte die aufgeregte Stimme am anderen Ende der kabellosen Leitung. Sie verzichtete auf einen Gruß und noch mehr darauf, sich vorzustellen. Es war die Stimme einer Frau im mittleren Alter.

„Ja, worum geht es denn?“, fragte Ator. In dem Moment, als er den Hörer abnahm, bereute er bereits, das Gespräch überhaupt angenommen zu haben. „Ich kann nicht mehr“, jammerte die verzweifelte Stimme am Telefon. „Ich brauche Hilfe. Ich bin SEHR, SEHR, SEHR krank. Niemand versteht das. Der will mich kaputt machen. Jetzt nimmt er mir das Letzte was ich noch habe“. Ator, der in seiner Mediatorenausbildung gut aufgepasst hatte, lernte auf Worte zu achten, die wiederholt werden.[2]Das Wort „sehr“ kam dreimal vor. Das entging ihm nicht. Er wollte darauf aber noch nicht eingehen. Stattdessen prüfte er sofort die Kriterien der Geeignetheit.[3] Das hatte er ebenfalls gelernt. Aber auch dafür waren die Angaben ziemlich dürftig. Ihm fiel auf, dass fast jeder Satz mit „ich“ anfing, dass es einen anonymen Aggressor gibt und offenbar auch eine existenzielle Bedrohung. „Das wird ja eine tolle Sache“, raunte er der neben ihm sitzenden Medi zu und verdrehte dabei seine Augen. Er schaltete das Telefon laut, sodass Medi mithören konnte. Ator wollte nicht, dass ihm etwas entgeht und vielleicht war es auch gut, eine Zeugin zu haben. Ein Mediator spürt so etwas. Ohne auf seine Beobachtungen einzugehen, fragte er die Anruferin scheinheilig: „Und was können wir für Sie tun? Sie wissen, dass Sie bei den Weihnachtsmediatoren gelandet sind?!?“. „Ja“, antwortete die verzweifelte Stimme am Telefon. „Ich habe Sie im Internet gefunden. Da steht, dass Sie den Menschen in ausweglosen Fällen helfen“.

Ator schaute Medi stirnrunzelnd an. Da steht hoffentlich etwas anders, wollte er sich erinnern. Er war sich gerade nicht sicher, ob er mit diesem Versprechen beim Wort genommen werden will. Er wusste aber auch, dass man mit Love-bombing Kunden fängt.[4] Tolle Versprechungen verfangen immer. Aber was soll’s. Erst mal sehen, worum es geht. Vielleicht können die Profis ja tatsächlich helfen. „Es gibt viele Möglichkeiten zu helfen“, sagte Ator wahrheitsgemäß der Anruferin.[5] Das war schon mal ein guter Ansatz. „Ich brauche ein paar Details, um zu sehen, ob und wie WIR Ihnen helfen können“. Das war auch gut. „Was ich verstanden habe war, dass da jemand ist, von dem Sie befürchten, dass er Ihnen Leid zufügt“. „Leid zufügt?“, fuhr ihm die Anruferin völlig aufgelöst dazwischen. Ihre Stimme überschlug sich. „Der will mich kaputt machen!“, schrie sie Ator an. „Der will mich aussaugen. Der will mich zerquetschen. Der will mich vernichten!“. Jetzt fingen alle Sätze mit „der“ an. Ator hielt den Hörer vom Ohr weg, um sein Trommelfell zu schützen. Er wandte sich zu Medi und tippte mit dem Zeigefinger an seine Stirn. Medi verstand die Botschaft mit den Tassen im Schrank. Sie schüttelte ermahnend den Kopf. Die empathische Medi ließ sich mal wieder von der Geschichte einfangen. Umso sachlicher und kontrollierter fiel Ators Reaktion aus. Die beiden Mediatoren sind halt ein gutes Team. „Wer ist DER?“, fragte er die Anruferin gespielt interessiert. Jetzt griff er die Wiederholung auf. Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: „Der ANTICHRIST!“.

Ator musste die Luft anhalten. Er schluckte, um das Wort Antichrist zu verdauen. Medi konnte sehen, wie schwer es ihm fiel, dieses Wort zu schlucken. Das schmeckte ihm überhaupt nicht. Die Verdauungspause gab der Anruferin Gelegenheit für einen weiteren, lange anhaltenden Wortschwall über den Antichristen. Weder Ator noch Medi haben das wirklich verstanden. Ator unterbrach die verbale Inkontinenz, weil sie seiner Meinung nach zu nichts führte. Außerdem bewegte sich das Gespräch noch im honorarfreien Raum, was seine Wertlosigkeit zum Ausdruck brachte.

Ator war gedanklich immer noch bei der Frage der Geeignetheit der Mediation. Und emotional war er auch noch bei der Frage, ob er sich so etwas überhaupt antun muss. Deshalb sagte er ins Telefon: „Ich habe verstanden. Das ist ein schlimmer Mensch in Ihrer Wahrnehmung“. „Das ist kein Mensch“, platzte die entrüstete Antwort aus der Anruferin heraus. „Das ist ein MONSTER“. Das mit der Wahrnehmung hat sie überhört. Sie hätte das Fakt in Frage gestellt.

Bevor sich die Anruferin weiter über den Antichristen auslassen konnte, kam Ator auf seine Frage zurück. Er musste sich nicht viel Mühe geben, die Anruferin zu beruhigen. Weihnachtsmediatoren sind einiges gewöhnt. Deshalb konnte Ator völlig gelassen bleiben. „OK“, insistierte er in einem ganz ruhigen Ton. „Ich möchte wissen, ob und wie wir Ihnen helfen können“. Ator machte eine kleine Pause und zählte bis 23. Natürlich bei 20 beginnend.[6] Dann fuhr er fort: „Erzählen Sie mir doch bitte kurz, was das Problem ist. Das Wort kurz hatte die Anruferin überhört. Sie betrachtete Ators Frage als eine willkommene Aufforderung für ihren nächsten Erguss. Die Langspielplatte begann von vorne.[7] Was für den einen kurz ist, ist für den anderen lang.

Zum Glück kam die Anruferin nach einer gefühlten Ewigkeit hinter Atem. Sie verhaspelte sich. Nur der Satz: „Ich bin sehr, sehr krank“, kam klar und deutlich rüber. Diesmal mit nur zwei „sehr“. Die Krankheit scheint ihr wichtig zu sein, resümierte Ator im Stillen. „Ich kann meine Wohnung nicht verlassen“, fuhr die Anruferin fort. „Und wäre da nicht mein Mann, könnte ich mich nicht einmal versorgen. Den Antichristen hat meine Mutter auf mich gehetzt. Die will mir meinen Mann wegnehmen. Die zieht alle Register. Die sorgt dafür, dass die Unterstützung gestrichen wird, die wollte mich sogar schon ins Gefängnis bringen und meinen Mann auch. Den will sie auch vernichten. Das ist eine Hexe“. Antichrist, Hexe, wir kommen unserem Spezialgebiet langsam näher, dachte der Weihnachtsmediator in einer aufkeimenden Hoffnung. Trotzdem suchte er noch nach Anhaltspunkten für eine Mediation. In seiner Konfliktanalyse tauchten jetzt ein Ehemann, die Anruferin, eine Mutter, die eine Hexe ist und der Antichrist auf, der kein Mensch ist, sondern ein Monster und offenbar auch ein Gestaltwandler.[8] Und vielleicht gibt es auch noch ein paar Ämter und Behören, die auch in dämonenhafter Weise involviert sind. Das hatte die Anruferin zwar noch nicht gesagt. Aber das konnte sich Ator schon denken. „Die kann vielleicht besser von einem Anwalt beraten werden“, überlegte er. Der Gedanke war nicht ganz uneigennützig. Ein Exorzist wäre vielleicht auch ein passender Dienstleister, an den er die Anruferin weiterempfehlen könnte.

So attraktiv der Gedanke auch war. Ator verwarf ihn gleich wieder. Das verlangte die selbst ausgedachte Berufsehre von ihm.[9] Er musste herausfinden, was der Konflikt ist. Das war sein Ehrgeiz. Er begann die Sondierung mit der Frage: „Waren Sie schon bei einem Anwalt?“. Plötzlich war der Ehemann am Telefon. Er hat das Gespräch übernommen. Es schien, als hätte er seiner Frau den Hörer aus der Hand gerissen. Nicht weniger panisch fauchte er Ator an: „Was machen Sie mit meiner Frau? Hören Sie sofort auf damit. Alle wollen uns nur Schaden zufügen und jetzt bedrängen uns auch noch völlig fremde Menschen“. Ator und Medi waren überrascht über den Gesprächsverlauf. Eigentlich war es eine gute Gelegenheit, das Gespräch zu beenden. Lediglich der Antichrist machte sie neugierig. Der fehlte noch in ihrer Mediandenmenagerie. Der Umgang mit mystischen Weihnachtsgestalten war ja ihr Spezialgebiet. Der Antichrist hat zwar wenig mit Weihnachten zu tun. Aber das Schema passte. Und vielleicht können die Mediatoren mit der neuen Erfahrung sogar ihr Geschäftsfeld erweitern.

Ator blieb ganz ruhig. Er erklärte dem Ehemann zunächst, dass es seine Frau war, die ihn angerufen und um Hilfe gebeten hatte. Dass er ja gerne helfen würde, wenn es ihm möglich sei und wenn es auf eine Mediation hinausliefe Dazu müsse er halt ein paar Fragen stellen. Der Ehemann ließ sich von Ators Ruhe und Gelassenheit einfangen. Er spürte dessen redliche Absicht und erklärte daraufhin die Hintergründe: „Meine Frau ist sehr, sehr krank. Sie hat nur noch MICH. Sie leidet sehr unter der Ablehnung ihrer Mutter. Das macht sie wirklich fertig. Ihre Mutter ignoriert die Krankheit meiner Frau. Sie will ihr nur Böses. Sie hat ihre Tochter sogar schon beim Vormundschaftsgericht angezeigt, woraufhin sie eine Zeit in die Geschlossene kam. Danach wurde alles nur noch schlimmer. Mich hat sie bei der Agentur für Arbeit angezeigt. Sie hat behauptet, dass ich nicht arbeiten ginge, obwohl ich es könnte. Jetzt will sie, dass mir auch noch das Bürgergeld gestrichen wird. Dabei kann ich gar nicht arbeiten gehen. Wer kümmert sich dann um meine Frau? Die ist ohne mich völlig hilflos“.

„Waren Sie schon mal bei einem Anwalt?“, fragte Ator erneut. Die Frage verriet sein Denken. Er fragte nicht nach einem Arzt, obwohl doch die Krankheit im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen schien. „Wir waren schon bei vielen Anwälten“, erwiderte der Ehemann. „Aber die helfen uns auch nicht. Die werden von meiner Schwiegermutter indoktriniert. Die tut alles, um uns zu schädigen. Letztens hat sie uns die Polizei auf den Hals gehetzt und behauptet, meine Frau wolle Suizid begehen. Da musste ich sogar den Sanitäter verprügeln. Der wollte die Mechthild in eine Zwangsjacke stecken. Und dann hat der sie auch noch überall begrapscht. Wer weiß was der wollte. Meine Frau war völlig verängstigt. Sie versteckte sich hinter dem Sofa und schrie nur noch. Sie war völlig panisch. Sie hat kaum noch Luft bekommen. Warum verstehen die alle nicht, dass meine Schwiegermutter der Antichrist ist“. Oups da war er wieder, jetzt offenbar in der Gestalt einer Hexe und sogar als eine Frau. „Gibt es eigentlich auch eine Antichristin?“, überlegte Ator kurz. Er wusste, dass man beim Gendern keine Fehler machen darf. Aber das gehörte jetzt nicht zur Sache. Jedenfalls scheint der männliche oder weibliche Antichrist sehr mächtig zu sein, wenn er sogar die Behörden und die Sanitäter für seine Zwecke missbrauchen kann.

Ator schaute Medi fragend an. Sie verstand seinen Blick. Der Blick sagte ihr, ob sie sich das wirklich antun sollen. Die Frage ging beiden durch den Kopf. Beide wussten auch, dass dies möglicherweise kein Fall ist, der sich für eine Mediation eignet. Andererseits spürten sie, dass die Leute dringend Hilfe benötigen. Man müsste weiter sondieren, um die passende Dienstleistung herauszufinden. Also überlegten sie, wie es weitergehen könnte. Sie hatten verstanden, dass die Anruferin und ihr Ehemann sicher kein Honorar zahlen könnten. Aber das war in dem Moment für sie zweitrangig. Vielleicht lässt sich der Antichrist auf eine Bezahlung ein? Die Chancen dafür standen gar nicht schlecht.

Um die nächsten Schritte vorzubereiten, fragte Ator den Ehemann am Telefon: „OK, wenn wir uns auf eine Mediation einlassen, müssen alle an einen Tisch“. „Ja, aber nicht bei uns“, fiel ihm der Ehemann sofort ins Wort. „Und woandershin gehen wir auch nicht!“, ergänzte er. Das klingt wie Mission impossible. Aber es war ohnehin nicht Ators Plan, eine Mediation in der Wohnung der Betroffenen zu veranstalten. Wenn es woanders auch nicht geht, wird es schwierig. Der Einwand des Ehemannes machte Ator aber neugierig. Ein Verdacht kam in ihm auf. Deshalb fragte er: „Was spricht dagegen, zu Ihnen zu kommen?“. „Die Schwiegermutter kommt mir nicht ins Haus. Und Ihnen würde es hier auch nicht gefallen. Meine Frau kann den Müll nicht mehr heruntertragen. Wir sind auf Gäste nicht vorbereitet“. Ator fielen die Pronomen auf. Beim Haus war es ein MIR beim Müll war es MEINE Frau und bei den Gästen ein WIR. Ator sagte nur „Interessant“. Er dachte sich seinen Teil. „Ok“ fuhr er nach einer Weile des Schweigens fort. „Da wird sich ein Weg finden. Klären wir erst einmal die Frage, wer überhaupt an einen Tisch kommen muss, um die Situation zu bereinigen“. Wieder fiel ihm der Ehemann schreiend ins Wort. Er ließ Ator nicht ausreden. „AUF KEINEN FALL die Schwiegermutter“, sagte er. „Das ist der Satan“.

Antichrist, Satan, Hexe, Monster, es scheint sich um eine multiple Persönlichkeit zu handeln, amüsierte sich Ator. Aber OK es gibt ja auch eine Shuttle-Mediation und genau genommen, müssen die Mediatoren immer noch herausfinden, ob die Mediation eine geeignete Hilfestellung anbieten kann. Deshalb sagte er zu dem Ehemann: „Aber mit dem Antichrist reden müsste man schon, wenn Sie etwas ändern wollen. Ist das nicht so?“. „Mit DEM kann man nicht reden“, insistierte der Ehemann. „Lassen Sie das mal unsere Sorge sein“, forderte Ator auf. „Wir sind Profis“. Endlich konnte er das wieder einmal loswerden.

Nach einem zähen hin und her stimmte der Ehemann schließlich zähneknirschend zu. Wir kriegen die Leute noch zusammen, dachte Ator und fragte: „Wie erreichen wir denn den Antichristen, um ihn zu einem Gespräch einzuladen. Ator war neugierig, ob er jetzt die Adresse der Schwiegermutter genannt bekommt. Aber das war nicht der Fall. „Der Antichrist tritt in verschiedenen Gestalten auf“, erklärte der Ehemann stattdessen. Das machte die Sache noch etwas schwieriger. Vielleicht aber auch nicht. Denn wenn die Schiegermutter nur eine Inkarnation des Antichristen ist, könnte ein Exorzismus tatsächlich helfen. Dann bleibt nur die Frage, bei wem der Teufel ausgetrieben werden muss. Wie bekannt, stirbt die Hoffnung immer zuletzt. Immerhin verblieben die Gesprächspartner, dass die Mediatoren einmal versuchen, mit der Schwiegermutter Kontakt aufnehmen, um zu sehen, ob es Bewegungsspielräume gibt. Natürlich holte Ator eine Erlaubnis ein, und verabredete, was er von dem Gespräch weitergeben darf.[10] Er war ja schließlich ein bekennender Profi. Die Kontaktaufnahme mit der Schiegermutter war Medi’s Job. Da deutete sich, trotz der Genderproblematik, ein Frauengespräch an.

Es bedarf keiner besonderen Erwähnung, dass sich die Darstellung des Sachverhaltes aus der Perspektive der Schwiegermutter ganz anders darstellte. Medi hatte auch nicht den Eindruck, dass sie mit irgendeiner Art Teufel, Hexe, Monster oder gar dem Antichristen sprach. Die Schwiegermutter war dankbar, dass sich jemand um den Fall kümmerte. Ja, sie hielt ihre Tochter für krank. Es habe schon Betreuungen gegeben und es gab sogar eine zeitweise Unterbringung. Alle Bemühungen, ihr zu helfen, würden jedoch von dem Ehemann boykottiert. Jede Hilfe werde vereitelt. Egal wer sie anbietet. Die Schwiegermutter begann zu weinen. Sie fühlte sich völlig ohnmächtig. „Auch wenn es eine erwachsene Frau ist, so ist es doch meine Tochter“, sagte sie schluchzend. „Ich will doch nicht mehr, als dass es ihr gut geht“. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die Mutter glaubte, dass ihre Tochter mit dem Teufel verheiratet sei. Er sei der einzige Grund, warum die Beziehung zu ihrer Tochter in die Brüche gegangen sei. Der Schwiegersohn ließe nichts und niemand an ihre Tochter heran, außer, um Unterstützung zu kassieren und um nicht arbeiten zu gehen. Das sei auch der Grund, warum der Taugenichts die Beziehung abgebrochen habe. Die Mutter habe sich irgendwann verweigert, immer nur zu zahlen ohne ein Dankeschön, eine Anerkennung oder ein Bemühen, an der Situation etwas zu ändern. Ja natürlich sei sie zu einer Mediation bereit. Sie würde diese auch bezahlen. Das war keine Überraschung. Ator ahnte ja schon im Voraus, dass sich der Antichrist auf eine Bezahlung einlassen würde.

Das mit der Bezahlung war sicher eine gute Nachricht. Aber: „Hilft uns das weiter?“, fragte Ator seine Co-Mediatorin. „Mir scheint, das ist eher ein Fall für Psychiater, Exorzisten, Anwälte oder sonst wen. Was können wir schon in der Hölle anrichten, bei all den Teufeln?“ Medi hatte einen Einfall: „Mal ins Unreine gesprochen: Der Einzige, der den Fall lösen kann, ist der Antichrist“. Ist das auch ein Dienstleister?“, fragte Ator spöttisch. Aber weil sich der Gedanke gar nicht falsch anfühlte fragte er: „Und wer soll das sein?“. „Ich kann Dir sagen, wer es nicht ist“, antwortete Medi.

Wie dem auch sei. Die beiden Mediatoren aus Leidenschaft wollten helfen. Deshalb führten sie viele Gespräche. Alles am Telefon, versteht sich. Einen persönlichen Kontakt hatte der Ehemann ständig abgewehrt. Seine Ehefrau bestätigte alles was er sagte, so als wäre sie ihm hörig. Es war eine verzweifelte Beziehung, die die beiden miteinander hatten. Sie führte in eine gegenseitige, toxische Abhängigkeit aus der beide nicht herauskamen und wohl auch nicht wollten. Immer mehr rückte der Ehemann in die Rolle des Agitators, der die Ehefrau zu unterdrücken schien. Er war der, der alles entschied. Und plötzlich war die Frage klar, wer der Antichrist ist. Er steckt in den Köpfen der Parteien.

Medi und Ator entwickelten einen Plan, wie sie damit in einer Mediation umgehen könnten. Geister waren ihre Spezialität. Sie recherchierten auch über den Antichristen und erfuhren, dass man sich in einem Urinkreis vor ihm schützen kann. Das ging ihnen nun aber doch zu weit. Um wen hätten sie den Kreis denn auch pinkeln sollen? Und noch interessanter war die Frage, ob sich die Mediatoren dann innerhalb oder außerhalb des Urinkreises aufhalten. Wer draußen steht ist der, vor dem man sich schützen will. Aber zum Glück gibt es ja noch andere Tricks, wie zum Beispiel den leeren Stuhl.[11] Oder vielleicht eine nicht nach Ammoniak riechende virtuelle Präsenz.[12]

Dazu sollte es aber nicht kommen. Ganz abgesehen davon, dass die Anruferin und ihr Ehemann keine Internetverbindung aufbauen konnten oder wollten, hatte der Ehemann den ohnehin nur telefonisch möglichen Kontakt plötzlich abgebrochen. Das passte ins Bild, wenn er und seine Frau bisher jegliche Hilfe verweigert haben, die irgendetwas an ihrer Situation verändert hätte. Es ist also ebenso konsequent, wie symptomatisch, wenn sie die Mediation in dem Moment abbrechen, wo sie als eine zur Veränderung führende Hilfe erkannt wird.

Der Weg aus dem Teufelskreis

Die Mediatoren sahen nicht nur die Tragik der Situation. Sie erkannten auch den Teufelskreis, den sich die Parteien selbst geschaffen haben. Sie spürten, dass es unendlich viele und einfühlsame Gespräche erfordern würde, um den Teufel aus den Köpfen der Parteien zu vertreiben. Medi und Ator würden das Rumpelstilzchen bemühen.[13] So, als müssten sie den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Aber selbst beim besten Willen bekamen sie nicht die Gelegenheit dazu. Sie dachten sogar darüber nach, selbst die Behörden zu informieren. Wenn es zum Schutz einer Partei ist, wären sie trotz der Verschwiegenheitspflicht dazu berechtigt.[14] Aber was würde es nutzen? Die Parteien sind gerichtsbekannt und sie haben es sich mit allen Behörden, die einst helfen wollten, auch gründlich verscherzt.

„Das tragische an der Sache ist“, sagte Medi, „dass unsere Mediation sogar wirklich helfen könnte“. „Der Wahnsinn müsste ihr nur eine Tür öffnen“, erwiderte Ator spontan in seiner Verzweiflung. „Ja“, stimmte ihm Medi zu. „Es geht darum, den Weg aus dem Rabbithole zu finden“.[15] „Zum Beispiel indem man keine Nachrichten liest“, frotzelte Ator, der das Gespräch am Nachmittag der späten Vorweihnachtszeit noch nicht vergessen hatte. Medi verstand. „Wer sich in dem verliert, was er für die Wirklichkeit hält und sich nicht darüber hinauswagt, der wird nie die Wahrheit erkennen“. Dann fügte sie hinzu: „Man muss das ganze Bild sehen“. „Wie wahr“, sagte Ator, der sich in diesem Satz bestätigt sah. Er hob hervor, dass dies seine Worte seien und ergänzte: „Leider musst Du die Wahrheit kennen, um zu wissen, dass Du Dich in der Wirklichkeit verlierst“. Das musste er unbedingt noch draufsetzen. Aber Medi widersprach. „Nein“, sagte sie. „Ich muss die Wahrheit nicht kennen. Ich muss sie für möglich halten. Wenn ich sie kenne, ist es möglicherweise keine Wahrheit mehr“. Das klang unerwartet schlau. Darüber musste Ator erst einmal nachdenken. Aber nicht jetzt.

„Apropos Wahrheit“, lautete sein Einstieg in den abrupten Themenwechsel. „Lass uns Weihnachten feiern, damit wir die Teufel loswerden“. „Das machen wir“, stimmte Medi ihm zu, nicht ohne Ator zu ermahnen: „Und die Zeitungen legen wir beiseite“. So ein sturer Trotzkopf, dachte Ator bei sich. Und irgendwie wurde ihm bei dem Gedanken warm ums Herz. Frohe Weihnachten.

Arthur Trossen

[1] Siehe https://wiki-to-yes.org/Mäeutik
[2] Siehe https://wiki-to-yes.org/Wiederholen
[3] Siehe https://wiki-to-yes.org/Geeignetheit
[4] Siehe https://wiki-to-yes.org/Lovebombing
[5] Siehe https://wiki-to-yes.org/Verfahrensauswahl
[6] Siehe https://wiki-to-yes.org/Pause
[7] Siehe https://wiki-to-yes.org/Begründungssemantik
[8] Siehe https://wiki-to-yes.org/Konfliktanalyse
[9] Siehe https://wiki-to-yes.org/Berufsethik
[10] Siehe https://wiki-to-yes.org/Einzelgespräch
[11] Siehe https://wiki-to-yes.org/Leerer_Stuhl
[12] Siehe https://wiki-to-yes.org/Onlinemediation
[13] Siehe https://wiki-to-yes.org/Rumpelstilzcheneffekt
[14] Siehe https://wiki-to-yes.org/Verschwiegenheit
[15] Siehe https://wiki-to-yes.org/RabbitHole